Oskar Negt

Für eine Ökonomie des ganzen Hauses

 

Geht man die in den vergangenen fünfzehn Jahren gemachten Vorschläge zur Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft und zur Beseitigung chronischer Massenarbeitslosigkeit unter Gesichtspunkten der gegenwärtigen Selbstdefinitionsversuche des Menschen durch, stößt man auf wiederkehrende, längst zum Argumentationsritual geronnene Bestimmungen: Ziel in dieser Frontstellung der Suchbewegungen ist selbst für jene, die privat eher eine konservativ geprägte Auffassung vom Menschen und seinen familiären Verwurzelungen vertreten, der universell bewegliche Mensch, völlig ins Funktionale abgerutscht, von innerlichen Bindungen jeglicher Art so weit gelöst, daß er jederzeit die erkannten Marktchancen wahrzunehmen bereit ist.

Ist der Blick für eine Krisenlösung ausschließlich auf die Willensentscheidungen, die Anspruchshaltungen und Qualifikationsmerkmale der lebendigen Arbeitskraft von Arbeitnehmern gerichtet, also jener abhängig tätigen Lohn- und Gehaltsempfänger, die vom unsicheren Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, dann ist der Horizont von Organisationsphantasie, von Symbolbegriffen und Fragestellungen von vornherein auf jenes politische Aktionsfeld begrenzt, das die Misere mit eindeutigen Schuldzuweisungen verknüpft: Es ist die mangelnde Fähigkeit, ja vielleicht sogar der innere, rebellische Widerwille gegen Erwartungen, sich bereitwillig und bedingungslos als arbeitende Trabanten um die Sonne des Kapitals und der Marktgesetze zu bewegen.

In der zunehmenden Differenzierung der Zeitstrukturen (unter dem seit Anfang der achtziger Jahre konstanten Stichwort ,Flexibilität‘) liegt die magische Lösungsformel dieser auf die Krise der Arbeitsgesellschaft gerichteten, vorwiegend betriebswirtschaftlichen Blickrichtung. Gegenstand der Klage sind der Modernitätsrückstand der Arbeitskraft, einschließlich ihrer sozialstaatlichen Sicherheitsumklammerung, und vielfältige, durch Gewöhnung an einen relativ hohen Lebensstandard zusätzlich verstärkte Barrieren der Anpassungsfähigkeit und der Anpassungsbereitschaft.

In diesem Argumentationszusammenhang geht es um einen spezifischen Diskurs, an dem Politiker ebenso wie Wissenschaftler beteiligt sind. Die erkenntnisleitenden Interessen, die dabei im Spiel sind, ergeben sich aus einer machtpolitischen Vorentscheidung, die den Einzelvorschlägen, so arbeitnehmerfreundlich sie auch erscheinen mögen, ihre sachliche Neutralität nimmt. Denn alle Rationalitätskriterien, die diesen machtpolitischen Blick ,von oben‘ lenken, sind der Kapital- und Marktlogik entnommen; deren organisierendes Bewegungszentrum ist die betriebswirtschaftliche Kalkulation.

Bleiben demzufolge die Machtstrukturen der dominanten Ökonomie unangetastet, verbunden mit dem trügerischen Schein, eine die Gesamtgesellschaft erfassende Ökonomie würde lediglich aus der Summe der ,schlanker‘ gewordenen Einzelbetriebe bestehen, dann zerbrechen selbst die vernünftigsten Lösungsvorschläge an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, deren eigentümliche, die Lebenswelt der Menschen bestimmende Bewegungsgesetze ja die Widersprüche der Arbeitsgesellschaft und vor allem chronische Massenarbeitslosigkeit in entscheidenden Punkten mitverursacht haben und in ihrer jeder gesellschaftlichen Kontrolle entzogenen Wirksamkeit die Misere tagtäglich zementieren.

Ein gewiß gutwilliger, jedenfalls alles andere als zynisch denkender Politiker wie Norbert Blüm bekundet Unverständnis gegenüber einer Welt, die absolut vernünftige Vorschläge, die Vorteile für beide Seiten bringen - Kostenersparnisse für das Kapital, größere Zeitdisposition der Arbeitnehmer, im Sinne der Einschränkung und der schließlichen Aufhebung der Massenarbeitslosigkeit -, praktisch nicht umzusetzen imstande ist. "Wir sind fähig", klagt Blüm in einem Artikel der ,Frankfurter Rundschau‘, "Menschen zum Mond zu transportieren, aber wir sind unfähig, eine intelligente Arbeitszeitreform, die die Wünsche der Arbeitnehmer mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten kombiniert zu finden. Das ist keine Paragraphensache, das ist eine Sache des Mutes, der Kreativität der Beteiligten." Blüm merkt gar nicht, wie einseitig die Anforderungen sind, die er hinsichtlich der Flexibilität an die Kontrahenten richtet, die sich in ihren Interessen versöhnen sollen. An die Unternehmer appelliert er, das verstärkt zu tun, was sie ohnehin, bei Strafe ihres wirtschaftlichen Ruins, tun müssen: "Die Strukturprobleme müssen in erster Linie von den Unternehmen selbst bewältigt werden: durch ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit, Innovationen mit neuen Produkten und Produktionsverfahren, durch die Erschließung neuer Märkte, durch Kostenreduktion und Effizienzsteigerungen."

Flexibilität aus dem Blickwinkel der Unternehmer bedeutet also nichts anderes, als im Selbstbild des erfolgreichen, dynamischen Unternehmers, wie ihn Joseph Schumpeter verstanden hatte, bereits enthalten war. Betriebswirtschaftliches Haushalten, ,lean production‘, ,lean management‘, Kostenreduktion durch massenhafte Freisetzung lebendiger Arbeitskraft, schnelle Beweglichkeit im Wechsel der Industriestandorte, auch zum Ausland hin, ohne sich durch lokale oder regionale Bindungen verpflichtet zu fühlen - das alles sind doch konstituierende Elemente jener Krise unserer Arbeitsgesellschaft, zu deren Bekämpfung Flexibilität aufgeboten wird.

Ist hier das Selbstvertrauen der Unternehmerwelt bekräftigt, so wird um so massiver die Lebenswelt der Arbeitnehmer mit Forderungen konfrontiert, die mit entscheidenden Eingriffen in Gewohnheiten, Selbstwerteinschätzungen, Lebensstandard und mit kulturellen Umorientierungen verbunden sind. Die großen Vorteile der Flexibilität, die in der Fragmentierung der Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, in Teilzeit-Gleitzeit-Arbeit oder in Spardepots von Sabbatzeiten liegen sollen, haben - wenn sie sich am Ende nicht ausschließlich zu Lasten der lebendigen Arbeitskraft auswirken, ohne einen einzigen zusätzlichen und zukunftssichernden Arbeitsplatz zu schaffen - zur unabdingbaren Voraussetzung eine grundlegende kulturelle und soziale Umorientierung der gesamten industriellen Zivilisation, des Verhältnisses von Arbeit und Muße, der Beziehungen des Privatinteresses zur Öffentlichkeit, der individuellen Bedürfnisse zum Gemeinwohl. (...)

Welche Berechtigung es auch haben mag, die arbeitsgesellschaftlichen Utopien als ausgeschöpft zu betrachten und das endgültige Ende der Arbeitsgesellschaft zu verkünden: die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz andere Sprache. Es lassen sich kaum Hinweise darauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung, über deren gesellschaftliche Anerkennung sich individuelle Identität und Selbstwertgefühle bilden, im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertungen erfahren hat. (...)

Von der großen Masse der Menschen wird Arbeitslosigkeit nach wie vor als ein Gewaltakt empfunden, als ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon Betroffenen. Sie gilt als Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule, der Lehre in der Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozeß erworben wurden und die jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in Gefahr sind, zu verrotten und dadurch schwere Persönlichkeitszerstörungen hervorzurufen.

Das ist der Grundskandal unserer Gesellschaft. Sie droht an ihrem Reichtum und ihren Überschußprodukten zu ersticken und ist gleichwohl außerstande, Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben. Ich rücke bewußt dieses moralische und kulturelle Problem der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund, die Frage der immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelten menschlichen Würde. Denn ist dieser Orientierungspunkt verloren, sind der pragmatischen Phantasie bloß technischer Lösungen keine Grenzen mehr gesetzt. Will man sich nicht darauf einlassen, mit der kompletten Umsetzung von Flexibilisierung und Fragmentierung des Arbeitslebens am Ende einen allseitig verfügbaren und jederzeit manipulierbaren Menschen zu erzeugen, dann müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein.

Die in bezug auf die Gesamtgesellschaft ausgeübten Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die von der Produktion ausgehen, bedürfen einer grundlegenden Reform. Strukturprobleme dieser herkömmlichen, von Betriebswirtschaft und Kapitallogik geprägten Erwerbsgesellschaft werden nur lösbar sein, wenn der Verfassungsgrundsatz in Artikel 14 Absatz 2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" wieder Eingang in das unternehmerische Denken findet und sich in den Köpfen der ökonomisch Mächtigen als eine Art Verantwortungsethik zur kulturellen Selbstverständlichkeit befestigt. Solange Wirtschaftsstandort und Lebensstandort verwechselt werden, ist der Erpressungsmacht mit Konkurrenzhinweisen Tür und Tor geöffnet. Die Vorherrschaft einer solchen regulativen Denkweise beschädigt und zerrüttet am Ende das Gemeinwesen.

Aber es wäre eine Verkennung des Ernstes der Situation, wollte man Krisenlösungen in erster Linie einem neuen Kodex ethischer Verpflichtungen aufbürden. Ohne Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Reichtumsproduktion, ohne Infragestellung des Produktionsmythos und des Warenfetischismus kann eine Umverteilung von Arbeitsplätzen nicht gelingen. In diesem eingemauerten Kontext des Bestehenden könnte das Resultat nichts anderes sein, als es sich im betrügerischen Wettlauf zwischen Hase und Igel zeigt: Ein Arbeitsplatz wird neue geschaffen, drei werden vernichtet. Die mikroelektronische Vernichtungsmaschinerie lebendiger Arbeitskraft ist immer schon am Ziel angekommen.

Lothar Späth und Herbert A. Henzler (ein McKinsey-Unternehmensberater) erwähnen bedrückende Prognosen: Würde man den höchsten Stand der heute verfügbaren Technik überall dort realisieren, wo dies möglich ist, fielen von den noch bestehenden dreiunddreißig Millionen Arbeitsplätzen neun Millionen weg. Die Arbeitslosigkeit würde auf weit über dreißig Prozent ansteigen. Selbst wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, so ist die damit bezeichnete Tendenz doch nicht zu bezweifeln.

Nicht nur die Krisenfolgen sind neuartig, auch die Struktur der Krise hat sich verändert; die Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Massenphänomen ist von den herkömmlichen Wellenbewegungen von Konjunktur und Rezession abgekoppelt. Es ist aus diesem Grunde immer unwahrscheinlicher, daß das Problem der chronischen Arbeitslosigkeit im begrenzten Horizont betriebswirtschaftlicher Kostenüberlegungen zu lösen ist.

Eine ganz andere Ökonomie wäre erforderlich, um die allmählich ins Unermeßliche wachsenden menschlichen, sozialen und politischen Kosten von Massenarbeitslosigkeit einzudämmen und am Ende überflüssig zu machen. Es ist ein Problem, das Wohl und Wehe der Gesamtgesellschaft betrifft; deshalb greifen hierarchisch-ökonomische Regelungen zu kurz. Wenn eine Ökonomie im Spiel ist, dann kann es nur eine des ,ganzen Hauses‘ sein. Die darin zur Sprache gebrachte öffentliche Vernunft hätte die gesamtgesellschaftlichen Kosten zum Ausgangspunkt, Gesellschaftsreform zum Ziel.

Die Arbeitsgesellschaft in der von den Produktions- und Verwertungsregeln des Kapitals geprägten Form aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben wird immer kostspieliger, am Ende unbezahlbar. Dies wird verschleiert, indem jedes Ressort, jeder gesellschaftliche Bereich die eigenen Kosten auf andere abzuwälzen versucht und die Selbsterhaltung durch Kredite und Anleihen finanziert. Woher soll denn bei leeren Haushaltskassen und unserem Überschuldungssystem das Geld für Reformen genommen werden? Dem ist die geschichtliche Erfahrung entgegenzuhalten: Nichts ist teurer, als überholte Verhältnisse am Leben zu erhalten, nichts ist kostspieliger als die Nicht-Reform.

Aber die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit, das sich in einem schmerzlichen Prozeß von fünfhundert Jahren, mit eigentümlichen Berufsethiken und vielfachen Bedürfnissen nach gegenständlicher Tätigkeit, herausgebildet hat, ist nicht der illusionäre Idealismus der Aufhebung der Arbeit, sondern der Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen der Arbeit, die der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dienen.

In dieser Perspektive kann ein Umbau der Arbeitsgesellschaft nur gelingen, wenn er gleichzeitig beiträgt zur ökonomischen Krisenlösung und zur Erfüllung der Emanzipationswünsche der Menschen. André Gorz, der bedeutendste Vordenker einer am Gemeinwesen und dem ökologischen Gleichgewicht orientierten Alternative zur herkömmlichen Erwerbsgesellschaft, trifft den entscheidenden Punkt, wenn er fordert, an die Stelle kapitalfixierter Arbeit müßten ganz andere Arbeitsformen treten, "beziehungsreiche Tätigkeiten, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens und so weiter, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen, nicht instrumentell rationalisierbar sind und jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft liegen". Das wäre aber kein Jenseits der Arbeitsgesellschaft, sondern eine Erweiterung, Vertiefung, Vervielfältigung der kulturell anerkannten Arbeitsformen, die durch den geschichtlich spezifischen und einmaligen Konflikt von Lohnarbeit und Kapital vereinseitigt und verengt wurden.

Dieser Spezialfall neigt sich dem Ende zu. In diesem Sinne gibt es ein Ende der Arbeitsgesellschaft; aber alle Tätigkeiten, die Gorz aufzählt, sind Arbeitsformen, die es immer gegeben hat und ohne die auch heute jede Gesellschaft zerfallen würde. Um ihnen einen höheren gesellschaftlichen Rang geben zu können, bedarf es eines gemeinwesenorientierten Umdenkens, das der sozial-kulturellen Logik folgt.

Nur wenn die von drückender Erwerbsarbeit freigesetzte Lebenszeit einen eigenen, autonomen Gestaltungsraum findet, also wesentlich Emanzipations- und Orientierungszeit ist, werden die Menschen das bestimmte Gefühl haben können, nicht bloßer Verwertungsrohstoff auf anderen Feldern zu sein. Das setzte voraus, daß Kreativität, Eigeninitiative, Unbotmäßikeit und Mußefähigkeit von Kindesbeinen an maßgebende Werte der Erziehung, des Bildens und des Lernens sind. Davon sind wir weit entfernt. Aber viele Schritte führen in die Richtung einer solchen Gesellschaftsreform, die nach meiner Einschätzung einzig und allein aus der gegenwärtigen Kulturkrise Auswege zeigen könnte.

September 1998

Ausführlich dazu:

Oskar Negt, Achtundsechzig, Politische Intellektuelle und die Macht

Verlag Zweitausendeins, 1998

Prof. Dr. Oskar Negt, Soziologe, Universität Hannover