Welf Schröter

Potentiale und Ungleichzeitigkeiten in der Generierung neuer Infrastrukturen der Arbeit

 

Fast ein Jahrzehnt nach den Reflexionen Karola Blochs (vgl. Beitrag Karola Bloch)über neue Technologien und Techniken drängen sich zwei Begriffe mehr und mehr in die arbeitsweltlichen und sozialen Diskussionen: einerseits der Begriff der Virtualität, der Virtualisierung der Arbeit und der Virtualisierung der Arbeitsorganisation und andererseits der Begriff der De-Materialisierung der Arbeitsbeziehungen. Virtualität heißt hierbei: Simulationen in der Rechnerwelt verfügen nicht über Entsprechungen in der traditionell verstandenen "materiellen" Welt. Virtualität heißt aber auch und dessen ungeachtet: Virtualität ist Realität. Virtuelles Arbeiten heißt de-materialisiertes Arbeiten. Virtualität ist und wird Teil der realen Arbeitswelt. Die Einführungsschlagworte lauten Telekooperation, Telearbeit, virtuelle Unternehmen, information highway, Individualisierung, Cyberspace ....

Innerhalb der dritten industriellen Revolution im Gefolge der Einführung neuer Technologien wie etwa der Mikroelektronik entfaltete sich eine weitreichende Strukturkrise, die nicht nur dramatische Rationalisierungsprozesse sondern auch neue Unternehmensverfassungen in Gestalt der "lean production" bzw. der "lean administration" hervorbrachte. Auf diese erste Welle strukturellen Umbruchs folgt nun eine zweite Welle in Gestalt sogenannter "intelligenter Systemtechnologien", die in ihren Auswirkungen das Industrie-Prinzip selbst berührt und aufzuheben beginnt. Waren die ökonomischen "Schlankheitskuren" eher nationale, branchenbezogene Reorganisationen, so basiert die Integration der Arbeitswelten durch Telekommunikationstechniken auf dem Globalisierungs-Prinzip. War die erste Welle unter anderem ein Prozeß der quantitativen Reduzierung der Normalarbeitsverhältnisse, so muß in der zweiten Welle die prinzipielle Infragestellung des Normalarbeitsverhältnisses erkannt werden. Das Industrie-Prinzip des Abhängig-Beschäftigt-Seins beginnt zum Dienstleistungs-Prinzip der freiwilligen oder unfreiwilligen Selbständigkeit zu kippen. Unsere bisherigen Vorstellungen von Arbeit, Arbeitsorganisation, Arbeitsqualität und Arbeitskultur stehen angesichts der telekommunikativ-virtuellen Potentiale vor einer erneuten - als tatsächlich historisch einzuschätzenden - Erschütterung (vgl. Beitrag Ralf Joas). Hinter dem Trend zur postindustriellen "Atomisierung der Arbeitskraft" verbirgt sich die Widersprüchlichkeit einer sich ungleichzeitig variierenden "Individualisierung". Letztere vollzieht sich auf der infrastrukturellen Plattform virtueller Arbeitsmilieus.

Die Veränderungsprozesse, die erkennbaren Umwälzungen sind nicht linear, nicht eindeutig und nicht naturgegeben. Sie sind gestaltbar und sie zeigen zwei völlig unterschiedliche Gesichter: Virtuelle Arbeitswelten einerseits als Beginn der Einlösung von Forderungen nach Humanisierung der Arbeit und andererseits die neuen Online-Arbeitswelten als Einstieg in den sozialen Absturz existenzieller Unberechenbarkeiten. Für beide Positionen gibt es starke Stimmen unter den Beschäftigten.

Die Transformation industrieller und postindustrieller Fertigungsweisen in virtuelle, interaktive Arbeitswelten folgt nicht nur den Bruchlinien ökonomischer Strukturkrisen im Prozeß regionaler De-Industrialisierung, sondern erzwingt vom natürlichen Subjekt eine kulturelle Überkompensation: Es müssen nicht nur die tiefen Schädigungen klassischer Entfremdungsvorgänge aus überlebter tayloristischer Produktionsorganisation überwunden werden, sondern die De-Materialisierung von Arbeit, Arbeitswerkzeugen und Arbeitsprodukten lösen tiefe Identitätsschwankungen und kulturelle Fremdwerdungen (vgl. Beitrag Oskar Negt) aus. Virtualität wird für viele Arbeitende teils als Verlustschock, teils als Herausforderung, teils als Überforderung, teils als Über-Beschleunigung aber auch als Chance und potentiell disponibler Gestaltungsraum erfahren.

Neue Ganzheitlichkeit durch Virtualisierung?

Die Virtualisierung menschlichen Arbeitens, der Weg in die Berufs- und Arbeitswelt der Informationsgesellschaft führen zu zeitlichen Entzerrungen in den Köpfen und Empfindungen der Menschen:

Die Wahrnehmungen des Beschleunigungsprozesses, die Spannungen zwischen neuer Ganzheitlichkeit und Re-Taylorisierung in virtueller Totalität unterspülen das Fundament des alten Blicks auf die industrielle Arbeitskultur. Noch bevor der Tagtraum eines nichtentfremdeten Arbeitens - vor dem Hintergrund des Industrialismus - eine Chance der Erfüllung erhielt, wandelt sich die Grundlage des Träumens. Tagtraum (vgl. Beitrag Jan Robert Bloch) und sein dialektischer Bezugspunkt Lohnarbeitskultur sind nicht mehr nur nicht in Gleichzeitigkeit kausalisiert, sondern es besteht die Gefahr der Nicht-Vermittelbarkeit: Bezugsverlust als Hinderung. Externe und interne Restrukturierungen des Arbeitsprozesses stellen schrittweise die entstandene Identität des arbeitenden Menschen in einen ungleichzeitigen Widerspruch zum Produktivkraftpotential der postindustriellen Formation. Selbst durch die Vergesellschaftung der durch Telekommunikation erwirtschafteten Kapitalvermögen bliebe der Widerspruch zur neuen Infrastruktur virtueller Arbeitswelt und zu deren Basischarakter bestehen.

Der Einstieg in die virtuellen Arbeitsformen kann die Wahrnehmung und das subjektive Erleben der kulturellen Entwurzelung, Vereinzelung, Hilflosigkeit und Orientierungsbedürfnisse erheblich verschärfen. Vermeintliche Sicherheit scheint aus den geordneten Gefügen arbeitsweltlicher Vergangenheit des früheren Taylorismus stärker zu wiegen als die Chance einer Humanisierung der Arbeit und einer Humanisierung der Partizipationswege zum Arbeitsmarkt. Die politischen Implikationen rückwärtsgewandter Stabilitätshoffnungen sind offensichtlich. Sie orientieren sich an sozialen Rahmenbedingungen, die jedoch zunehmend durch soziale Diskontinuitäten geprägt werden. Dem Bruch des traditierten Arbeitsbegriffs folgt der Bruch sozialer Stabilität.

Die Hoffnungen von Gewerkschaften und sozialpolitisch Engagierten konzentrierten sich bislang darauf, Telearbeit zu bändigen, indem man sie auf die Ausformung der alternierenden Telearbeit zu begrenzen und über Vereinbarungen zu gestalten versucht. Unausgesprochen wird dabei die These unterstellt, daß Telearbeit eine klassische Form abhängiger Beschäftigung ist bzw. werden kann. Die derzeit vorliegenden Erfahrungen drängen zu einer Differenzierung.

Zweifellos ist die Lösung in Gestalt der alternierenden Telearbeit diejenige Variante, die am ehesten den bisherigen tarifvertraglichen, arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Denkansätzen und Anforderungsprofilen entspricht. Es zeigt sich jedoch zugleich, daß in den Ausprägungen der Telearbeit noch eine grundsätzlich andere Interpretation und Dynamik enthalten ist, die unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen objektiv gestärkt wird. Es handelt sich um die Tendenz zur Selbständigkeit.

Hoffnungen auf neue Arbeitswelten

Auch hierbei ist Vorurteilen sofort entgegenzuhalten, daß damit nicht primär die juristisch faßbare und sanktionierbare "Scheinselbständigkeit" gemeint ist.

Das Negativ-Szenario der neuen Online-Arbeitswelten hat ein sehr starkes zweites Gesicht. Es sind auch gerade Beschäftigte selbst, die zu Motoren der Umgestaltung hin zu neuen Arbeitsformen werden. Sie sind es, die mit den neuen Arbeitsmodellen Hoffnungen nach mehr Zeitsouveränität, persönliche Zeitflexibilität und individuell gestaltbare Autonomie verbinden. Der Wunsch zu mehr Autonomie in der Arbeit kommt aus verschiedenen Motiven:

Menschen, die diesen oder vergleichbar weiteren Hoffnungen verbunden sind, sehen in der selbständigen Form von Telearbeit eine Chance zu mehr Selbstentfaltung und Emanzipation. Sie empfinden sich nicht als Opfer eines dunklen Marktprozesses, sondern sie wollen diesen Weg. Man kann ihnen möglicherweise vorhalten, sie unterschätzen die Risiken und die sozialen Unsicherheiten. Aber sie sind mit dem Hinweis auf die "Scheinselbständigkeit" nicht umzustimmen. Sie sehen in der Kultur der abhängigen Beschäftigung für sich keine Alternative (vgl. Beitrag Siegmar Mosdorf).

Auf der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch der jungen neuen Selbständigen werden Virtualisierungsprozesse widersprüchlich verfolgt. Dabei schält sich heraus, daß das Qualifikationsniveau zumeist die Trennlinie zwischen den sich selbst subjektiv als Gewinner oder Verlierer einschätzenden Personen darstellt. Je höher die Qualifikation und Kompetenz desto eher identifizieren sich die Betroffenen mit dem Wandlungsprozeß als einer notwendigen Vorbedingung zum Erhalt ihres Unternehmens und ihres Arbeitsplatzes. Je geringer die Qualifikation und Kompetenz bei Betroffenen ausgeprägt ist, desto eher fürchten sie, im Rahmen des Umbaus an den Rand gedrängt und zurückgelassen zu werden. Nicht der Prozeß der Virtualisierung von Arbeitswelten löst dabei die Bedrohung aus sondern die Angst, den Zugang zu verpassen oder aber an neu entstehenden Zugangsbarrieren zu scheitern. Aus der Sicht gewerkschaftlichen Handelns erscheinen folgende Meßkriterien wichtig:

Der Wandel greift das Fundament unseres Verständnisses von Arbeit, von Lohnarbeit, von abhängiger Beschäftigung und vom Normalarbeitsverhältnis an. Es sind schon jetzt Bruchstellen identifizierbar, die aus dem tayloristisch bzw. posttayloristisch unterworfenen abhängig Beschäftigten mehr und mehr einen betriebslosen Selbständigen machen, der nicht mehr einem Arbeitgeber in Abhängigkeit gegenüber steht, sondern unmittelbar in neuen Formen Abhängiger vom globalisierten Markt wird. Zugleich produziert der Umbau zur Telearbeitswelt geradezu dialektisch eine neue Antithese zum materialen Taylorismus:

"Der Tendenz zur Des-Integration des Arbeitslebens durch asynchrone und raumzeitlich reorganisierte Telearbeit steht die Tendenz zur Wiederverknüpfung von Arbeit in sogenannten ,virtuellen Arbeitswelten‘ nahe. Virtualität wird zu einer arbeitsweltlichen Realität. Von der Vernetzung taylorisierter Arbeitsabläufe führt ein Weg zu ganzheitlichen, qualitativ neuen Formen von Arbeitsprozessen, die eine veränderte Weise des Co-Produzierens mit und auf dem Netz erlaubt. Dies bezieht sich nicht nur auf die Entfaltung virtueller Unternehmen, sondern grundlegend auf Wertschöpfungsprozesse, denen eine real-physische Entsprechung fehlt. Die Analyse eines schwäbischen Dienstleistungsunternehmens, das mit dem Schlagwort provoziert ‘Die Telearbeit ist tot’, könnte grundsätzlich recht behalten, denn der Dienstleister betrachtet die tayloristische Telearbeit lediglich als Einstiegsform in die virtualisierte Wirtschaftswelt. Die derzeitig ansetzenden Wandlungsvorgänge legen den Schluß nahe, daß der seit der Industrialisierung hervorgekommene Begriff von Arbeit nicht mehr primär identitätsstiftend mittels Vergegenständlichung der Arbeitskraft wirken kann, sondern daß Identitätsstiftung auf der Basis medialer Flüchtigkeit und trotz medialer Flüchtigkeit erfolgen können muß."

Der Übergang in die Gesellschaften der "virtualisierten Arbeitswelten" eröffnet Perspektiven jenseits alter betriebszentrierter "Kommando-Systeme". Statt Drill ist Skill gefragt. Statt Autoritätszwänge werden "Sachzwänge" oder deren vermeintliche Präsentation sichtbar. Die neue Generation der "unselbständigen Selbständigen", wie die moderne Umschreibung des Ex-Proletariers oder Ex-Angestellten lauten kann, nimmt verwundert irritierende Phänomene zur Kenntnis: "Der Druck auf die Beschäftigten soll erhöht werden, indem man den Zwang, dem sie ausgesetzt sind, vermindert. Die Macht des Unternehmers soll erhöht werden, indem der Unternehmer seine direkte Kontrolle vermindert." Der Anfang vom Ende des Normalarbeitsplatzes und Normalarbeitsverhältnisses wird vom Grundsatz her eingeläutet. Die Zukunft von Arbeit liegt in ihrer relativen Selbständigkeit."

Bloch neu lesen?

Angesichts dieses Szenarios erfährt die Blochsche Kategorie der Ungleichzeitigkeit und der Ansatz eines Denkens in ungleichzeitigen Widersprüchen eine hohe vitale Aktualität (vgl. Beitrag Michael Pauen).

Auf der Tagesordnung sollte deshalb ein neues Bloch-Projekt stehen: Die Aktualisierung und Anwendung Blochscher Kategorien, mit denen sich in seiner Tendenz der Übergang vom industriellen zum virtuellen Arbeitsleben erfassen läßt. Wie können die ungleichzeitigen Widersprüche im Transformationsprozeß offengelegt und beeinflußt werden? Wie ließe sich die qualitativ veränderte Kategorie Arbeit in ihrem Verhältnis zu Identitäts- und Emanzipationspotentialen definieren? Was bedeutete ein möglicher "aufrechter Gang" in die bzw. in der Informationsgesellschaft?

Es sollte dabei unzweideutig erkennbar bleiben, daß die Grundlagen der klassischen Marxschen und Blochschen Analysen (vgl. Beitrag Klaus Kufeld) der Arbeitswelt sich nicht nur auf der Erscheinungsebene sondern tatsächlich strukturell grundlegend verändern: Wir stehen am Ende der nur betriebsarbeitsplatz-zentrierten Wirtschaft und seiner sozialen Sicherungssysteme. Das Aufbrechen der Arbeitsplätze findet nicht nur tarifpolitisch und lohnbezogen statt, vielmehr auch qualitativ. Pointiert kann man feststellen: Es wird in Zukunft viel Beschäftigung aber wenig Jobs geben.

Der emanzipatorisch linke Ansatz einer befreienden Dialektik der Arbeit auf der Basis sich selbstverwaltender Belegschaften geht ins Leere, wenn schon bald die untypischen Arbeitsverhältnisse jenseits der Regelarbeit quantitativ die Mehrheit bildet. Das Blochsche Kategoriengefüge muß - parteilich für die gesellschaftliche Arbeit - aber vermehrt außerhalb der Lohnarbeitswelt gelesen werden.

Die Idee, daß es nur ein einziges gesellschaftliches Subjekt der Emanzipation gäbe, trägt nicht mehr. Nun kommt hinzu, daß wohl human-emanzipatorische Subjekte zusätzlich eher außerhalb der Betriebe zu finden sind.

Szenario: Flexibilisierung und neue Infrastrukturen der Arbeit

Telearbeit spiegelt sich in den unterschiedlichen Flexibilisierungsfolien: Flexibilisierung im Rahmen des ,industriellen Prinzips‘ schwächt den sozialen Gehalt und die Schutzfunktion des Tarifvertrags. Flexibilisierung im Rahmen entbetrieblichter Arbeitsinfrastrukturen könnte - bei geeigneter Ausgestaltung - möglicherweise Schutzfunktionen für real selbständig Arbeitende bzw. abhängig-selbständig Arbeitende erwirken.

Der Flexibilisierungsdebatte im Kontext des industriellen Normalarbeitsverhältnisses steht eine qualitativ andere Dynamik der Flexibilisierungsdiskussion bezogen auf virtualisierte Arbeitsformen gegenüber. Die Sicht auf das eine darf die Sicht auf das andere nicht verstellen. Wir müssen erkennen, daß Flexibilität in tradierter, sicherer abhängiger Beschäftigung andere Anforderungen und Folgen zeitigt als flexible Organisationsmodelle in grundlegend verschiedenen Formen der Infrastrukturen von Arbeit.

Zu den Kernbegriffen der zukünftigen Diskussionen werden ,Virtualisierung von Arbeitswelten‘, ,Virtuelle Wertschöpfungsketten‘, ,Regionale Innovationspartnerschaften‘ und ,Soziale Innovationen‘ zählen. Die beiden unterschiedlichen Dimensionen der Flexibilisierungstendenzen alten und neuen Typs (vgl. Beitrag Ulrich Klotz) treten hinzu. Diese Kernbegriffe gilt es frühzeitig von seiten der Gewerkschaften zu besetzen und um deren Inhalte zu ringen.

Im Zentrum des Nachdenkens befindet sich jedoch eine schmerzliche Frage: Werden sich mit der zunehmenden Verbreitung telekommunikativer technischer Infrastrukturen und mit dem voranschreitenden Umbruch hin zu einer Vielzahl von Ausprägungen selbständiger Arbeit - und damit mit den neuen Infrastrukturen der Arbeit - die sozialen Gefüge der Gesellschaft (vgl. Beitrag Irene Scherer) so verschieben, daß das industrielle abhängige Normalarbeitsverhältnis eine Minderheitenerscheinung gegenüber einer mehrheitlichen Kultur partiell prekärer Selbständigkeiten wird- Auf diese Frage antwortet folgendes grundsätzliche Szenario:

"Die in der Telearbeit innewohnende Tendenz stellt das bisherige Verständnis von Arbeit qualitativ und organisatorisch grundsätzlich infrage. Diese Tendenz leitet den Prozeß der ,Entbetrieblichung von Arbeit‘ ein und untergräbt die Bedingungen und den Kern des Normalarbeitsverhältnisses. Diese Tendenz ist Ausdruck und beschleunigender Faktor einer tiefgreifenden industriellen Strukturkrise. ,Entbetrieblichung von Arbeit‘ bedeutet den Umbau des betriebs- und unternehmenszentrierten Denkens. Aus abhängig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden tendenziell mehr und mehr Selbständige mit selbständig-selbständigem oder abhängig-selbständigem Status. Telearbeit als Teil von virtualisierten Arbeitswelten verstärkt die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses und des Normalarbeitstages, sie begünstigt den Trend zu verschiedenen Formen der Tele-Selbständigkeit. Nicht ,Jobbing‘, sondern ,Tasking‘ wird an Gewicht zunehmen: Teleworking on demand. Gewerkschaften müssen sich auf eine Situation einstellen, in der die Verbreitung tarifvertraglich geregelter und mit Betriebsvereinbarungen gestalteter Formen alternierender Telearbeit eine qualifizierte Minderheit gegenüber dem zunehmenden Markt der selbständig Telearbeitenden darstellt. Das industrielle Prinzip wandelt sich in Richtung informationelles Prinzip. Bezogen auf die Quantität der Arbeitsplätze kann dies heißen: Aus dem hiesigen Standbein Industriegesellschaft mit seinem Spielbein Informationsgesellschaft wird das Standbein Informationsgesellschaft mit seinem Spielbein Industriegesellschaft. Die doppelte ineinandergreifende Dynamik läßt arbeitskulturell eine neue Ungleichzeitigkeit entstehen. Auf den Prozeß der Virtualisierung von Arbeitswelten sowie sich wandelnde Formen von Telearbeit sind Tarifverträge, Tarifvertragspartner und staatliche soziale Sicherungssysteme sowie Zugangsmodalitäten zum Arbeitsmarkt kaum vorbereitet. Der ,Entbetrieblichung von Arbeit‘ und damit der schwindenden Solidaritätschancen der Beschäftigten auf betrieblicher Ebene untereinander gilt es den Typus einer neuen ,Solidarität der Abhängig-Selbständigen und Selbständigen‘ entgegenzustellen (eine neue Zielgruppe für gewerkschaftliche Arbeit). Der Umbau des Sozialstaates bzw. sozialer Sicherungssysteme muß den Zusammenhang von Virtualisierung, Entbetrieblichung, Part-Time-Präsenz auf dem Arbeitsmarkt, Segmentierung und Mindesteinkommen berücksichtigen. Die Debatte um die Zukunft der Telearbeit muß auch eine Debatte über die Zugangsinfrastrukturen zu Beschäftigung und über den Abbau von Zugangshemmnissen sein."

Die drastischen Veränderungen lösen Ängste und Befürchtungen aus. Diese beiden Geschwister sind jedoch schlechte Ratgeber für verantwortliches Handeln. Nicht ein ,Kopf-in-den-Sand-Stecken‘ ist gefragt, sondern ein mutiges Gestalten, um die Krise als Chance zur Durchsetzung von Bedürfnissen zu nutzen. Wie hieß es einst im Mai 68: "Seid realistisch, fordert das Unmögliche!"

Näheres siehe auch: Andreas Dengel, Welf Schröter (Hg.), Flexibilisierung der Arbeitskultur, Infrastrukturen der Arbeit im 21. Jahrhundert, Mössingen-Talheim 1997.

(Link www.talheimer.de/books/skw25.html)

August 1998

Welf Schröter, Leiter des Forum Soziale Technikgestaltung beim DGB Landesbezirk Baden-Württemberg, Mitglied des Beirates der Stiftung Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen/Rhein, langjähriger politischer Freund Karola Blochs