Ralf Joas

Wandel der Arbeitswelt - Wandel der Lebenswelt

 

Es läßt sich trefflich darüber streiten, ob es sich bei den Gesellschaften Deutschlands, Europas, der westlichen Staaten noch um Industrie- oder bereits um postindustrielle Gesellschaften handelt. Unbestreitbar ist aber, daß wir es nach wie vor mit Arbeitsgesellschaften zu tun haben. Das zeigt sich schon an der Bedeutung, die dem Problem der Arbeitslosigkeit zugemessen wird. Denn Arbeitslosigkeit ist nichts anderes als das Abweichen von der grundlegenden Prämisse der Arbeitsgesellschaft: Jeder, der arbeiten will, kann dies auch tun. Mit der Arbeitslosigkeit wird aber nicht nur gegen diese Norm verstoßen; gleichzeitig sieht sich der von Arbeitslosigkeit Betroffene auch als Person in Frage gestellt. Denn Arbeit in unserer Gesellschaft sichert nicht nur die materielle Existenz, sie macht auch einen guten Teil der Persönlichkeit, der Identität vieler Menschen aus. Ohne Arbeit droht dem Einzelnen demnach nicht nur das Risiko materieller Not; er gerät auch in Gefahr, einen wichtigen Teil seines Selbst zu verlieren.

Im Folgenden geht es nicht darum, einen weiteren Beitrag zu dem zweifellos wichtigen Thema "Arbeitslosigkeit - Ursachen und Wege, sie zu beseitigen oder zumindest zu vermindern" zu liefern. Auch geht es nicht oder nur am Rande darum, den unserer Arbeitsgesellschaft zugrundeliegenden Arbeitsbegriff - Arbeit in erster Linie verstanden als Erwerbsarbeit - zu problematisieren und daraus abgeleitet in eine Zukunft zu blicken, in der Arbeit umfassender begriffen wird als derzeit (Aus der wahren Flut der Veröffentlichungen zu diesem Thema vgl. etwa: Jeremy Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt/New York 1996; Orio Giarini/Patrick M. Liedtke, Wie wir arbeiten werden, Hamburg 1997 sowie die Beiträge von Mutz und Kühnlein in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B48-49/97). Im Zentrum der folgenden Ausführungen soll vielmehr jene Entwicklung samt ihrer Folgen stehen, die unter dem Stichwort "Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses" zu subsumieren ist.

Fakt ist, daß jene Form der Erwerbsarbeit rasant an Bedeutung verliert, bei der der Arbeitnehmer über lange Zeit - vielfach von der Ausbildung bis zur Rente - bei einem Arbeitgeber während im Tagesverlauf genau festgelegter Arbeitszeiten eine bestimmte Tätigkeit ausübt. An die Stelle dieses Normalarbeitsverhältnisses - schon der Begriff an sich wird zunehmend fraglich, weil diese Art des Arbeitsverhältnisses in wachsendem Maße nicht mehr die Norm ist - trat und tritt eine Vielzahl neuer Beschäftigungsformen.

Da sind zunächst jene zu nennen, die ihre Existenz den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien schulden: Telearbeit als moderne Form der früher verbreiteten Heimarbeit ist sicherlich eine der bekanntesten, aber bei weitem nicht die einzige Variante. Dank der modernen Technologien wurde auch das möglich, was unter dem Stichwort "virtueller Betrieb" firmiert: Dieser Betrieb hat keinen Firmensitz, keine Fabrikationshalle und keine feste Belegschaft, sondern bildet sich in der Regel als temporäres Phänomen, um spezielle, auf bestimmte Kunden zugeschnittene (Dienst-)Leistungen zu erbringen. Das heißt, die Mitarbeiter, die über einen bestimmten Zeitraum von unterschiedlichen Orten aus ihren Beitrag zu der nachgefragten Leistung erbracht haben, wenden sich nach erbrachter Leistung neuen, womöglich völlig unterschiedlichen Projekten zu, der zeitweise bestehende "virtuelle Betrieb" hört auf zu existieren.

Als zweite große, in dieser Dimension neuartige Form der Beschäftigung sind die sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnisse zu nennen. Darunter fallen die sozialversicherungsfreien 620-Mark-Jobs und die neue Berufsspezies der (Schein-)Selbständigen ebenso wie jene Arbeitnehmer, die über Zeitarbeitsfirmen an gerade Arbeitskraft nachfragende Unternehmen ausgeliehen werden. So gibt es derzeit nach neueren Schätzungen bundesweit gut fünfeinhalb Millionen geringfügig Beschäftigte in 620-Mark-Jobs. Die Zahl dieser Jobs hat in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen - unter anderem deshalb, weil reguläre Arbeitsverhältnisse in jeweils mehrere "Billigjobs" umgewandelt wurden. Diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen gemeinsam ist, daß diese Arbeitnehmer - freiwillig, aber vielfach auch unfreiwillig - keinen Anspruch auf jene tariflich vereinbarten Rechte und jene soziale Absicherung (Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung) haben, die das überkommene Normalarbeitsverhältnis bietet.

Ergänzend wäre noch zu erwähnen, daß selbst ein Großteil der Arbeitnehmer, die auch heute noch "normal" beschäftigt sind, den Rahmen der traditionellen Normalarbeit sprengen, weil sie - freiwillig oder gezwungen - in Abständen die Stelle wechseln. Dabei wird von den Befürwortern der neuen Arbeitswelt inzwischen nicht mehr nur der Unternehmenswechsel bei Verbleib in einer Branche propagiert; statt dessen soll der Einzelne im Laufe seines Lebens mehrere Berufe erlernen.

Diesen vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Beschäftigungsformen ist, bei allen Unterschieden, eines gemein: Sie lassen sich nur schwer oder gar nicht mit dem klassischen Betriebs- und Belegschaftsbegriff fassen. Wenn es aber keinen fest umrissenen Betrieb mit einer mehr oder weniger gleichbleibenden Belegschaft gibt, berührt dies auch unmittelbar das Selbstverständnis und die Funktion der Organisationen, die sich als Interessenvertreter der Arbeitnehmer verstehen, sprich der Gewerkschaften. Denn von Anbeginn an fungierten Gewerkschaften als Agenturen, die die Interessen der Arbeitnehmer bündelten, um ihnen so gegenüber Arbeitgebern und Politik eine größere Durchsetzungskraft zu verleihen. Dies funktioniert aber nur so lange, wie 1. die Interessen des einzelnen Beschäftigten zumindest im großen und ganzen mit denen seiner Kollegen übereinstimmen, 2. die Beschäftigten in einem Betrieb traditionellen Zuschnitts, das heißt örtlich begrenzt und auf Dauer angelegt, arbeiten, und 3. die Arbeitnehmer als solche überhaupt noch erkenn- und identifizierbar sind.

Alle drei Bedingungen wirksamer gewerkschaftlicher Vertretung für eine möglichst große Zahl von Arbeitnehmern werden durch den Wandel der Arbeitswelt in Frage gestellt. Durch die Diversifizierung der Beschäftigungsformen fächern sich nicht nur die jeweils individuellen Interessen auf; außerdem ist der Arbeitnehmer für die Gewerkschaft in bestimmten Fällen - Beispiel Telearbeit - nicht oder nur noch schwer ansprechbar.

Dies wiederum hat zwei Folgen, die die Gewerkschaften heute bereits stark verspüren: Zum einen ist die Mitgliedschaft in Gewerkschaften für viele Beschäftigte, gerade auch in den sogenannten Zukunftszweigen der Informationstechnologien und der neuen Dienstleistungen, nicht (mehr) attraktiv, weil die von den Gewerkschaften propagierten Ziele und Absichten mit der Lebens- und Erfahrungswelt dieser Arbeitnehmer und folglich mit deren eigenen Zielen nicht oder nur begrenzt übereinstimmen. So liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad in traditionellen Industriebetrieben bei 30 bis 40 Prozent, während in den zukunftsträchtigen neuen Dienstleistungsbereichen zum Teil nicht einmal zehn Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft sind. Dies führt einerseits zu Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften. Andererseits stellt sich für die Gewerkschaften auch die Frage, wie die für gewerkschaftliches Handeln unabdingbare Solidarität, das heißt das Einstehen des einen für die Belange des anderen, unter solchen Bedingungen erhalten beziehungsweise hergestellt werden kann. Denn worauf gründet Solidarität? Auf im großen und ganzen gemeinsamen Werten, aber eben auch auf dem Wissen, daß das, was dem Kollegen nebenan oder im benachbarten Betrieb passiert, morgen auch einem selbst passieren kann. Wenn es diesen Kollegen, den man seit langem kennt, aber nicht mehr gibt - Stichwort Telearbeit, Stichwort virtuelle Betriebe - fällt auch eine wichtige Bedingung für Solidarität im bisher üblichen Verständnis weg.

Aber nicht nur die Gewerkschaften, die bisher noch keine überzeugenden Antworten auf diese für sie selbst existentielle Herausforderung gefunden haben, sind von den Auswirkungen dieser neuen Arbeitsformen betroffen. Auch der private Bereich des Einzelnen wird Veränderungen unterworfen. Das kann, beispielsweise bei der Telearbeit, bei der der oder die Beschäftigte die Arbeitszeit zuhause weitgehend selbst festlegen kann, durchaus positive Folgen für die Gestaltung des Familienlebens haben. Andererseits hat die mit den neuen Beschäftigungsformen einhergehende Flexibilisierung der Arbeitszeit - der Achtstundentag wird ebenso zur Ausnahme wie die Fünf-Tage-Woche und das freie Wochenende - auch zur Folge, daß der Umfang der gemeinsamen Frei-Zeit in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis abnimmt. Nicht nur, daß jeder anders arbeitet, jeder arbeitet auch zu anderen Zeiten. Welche Folgen dies wiederum für Vereine und Verbände aller Art hat, die ja immer auch Stätten der gemeinsamen Sozialisation sind, ist unschwer zu erkennen.

Hier liegt eine Ursache für ein scheinbares Paradox: Viele Beschäftigte haben immer mehr Freizeit, weil die Arbeitszeit in den vergangenen Jahrzehnten reduziert wurde; gleichzeitig aber klagen viele über einen Mangel an freier Zeit. Sicherlich gehören solche Klagen heute bisweilen zum "guten Ton", "Freizeitstress" ist in. Andererseits aber wird es tatsächlich schwieriger, die eigene Freizeit mit der der anderen abzustimmen, Zeitmanagement gewinnt da im Privaten wie auch im Beruf eine ganz neue Bedeutung. Wenn sich die dargestellten Veränderungen in der Arbeits- und damit auch in der Lebenswelt vollziehen - und allem Anschein nach vollziehen sie sich, und dies wird künftig mit großer Wahrscheinlichkeit noch in verstärktem Maße geschehen - dann stellen sich zwei Fragen: 1. Sind diese Veränderungen schicksalhaft, oder sind sie steuer-, möglicherweise sogar umkehrbar? 2. Stellen diese Veränderungen eine Bedrohung oder vielmehr eine Chance dar?

Zu Punkt 1. ist zu sagen, daß es illusorisch wäre zu glauben, der technische Wandel, das heißt beispielsweise die Ausbreitung moderner Informationstechnologien, ließe sich auf Dauer aufhalten. Statt einen solchen Versuch zu unternehmen ist es sinnvoller, ohne Euphorie, aber auch ohne Schwarzmalerei die Wirkungen dieser Technologien herauszuarbeiten. Denn diese Technologien eröffnen zweifelsohne Möglichkeiten, nicht nur auf neue Arbeitsplätze, sondern auch auf humanere, den Bedürfnissen des Beschäftigten entgegenkommende Beschäftigungsformen. Letztlich aber gilt auch hier: Jeder Technologie wohnen Chancen und Risiken inne. Um erstere zu fördern und letztere zu minimieren, bedarf es der bewußten Steuerung des Einsatzes dieser Technologien, was eine möglichst breite gesellschaftliche Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Technologie voraussetzt. Anders sieht es bei jenen Beschäftigungsformen aus, die unter dem Oberbegriff "prekäre Beschäftigungsverhältnisse" fungieren. Deren Existenz geht nur zu einem kleineren Teil auf neuartige Technologien zurück. Hier spielen vielmehr (betriebs-)wirtschaftliche und Rendite-‹berlegungen der Unternehmen eine Rolle. Hier ist die Politik, und das heißt letztlich jeder Bürger, dazu aufgefordert, im demokratischen Streit darüber zu entscheiden, ob man solche Beschäftigungsverhältnisse gutheißt oder nicht. Und zwar nicht nur unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten nach dem Motto "Hauptsache Arbeit", sondern auch unter sozial- und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten. Will man künftig, um nur ein Beispiel zu nennen, eine wachsende Anzahl von "working poor" akzeptieren oder nicht?

Dies leitet zur Frage "Chance oder Bedrohung" über. Die Frage ist nur zu beantworten, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Die von der großen Mehrzahl der Bürger sich selbst zugedachten Biografien beruhen auf der Vorstellung sicherer (Erwerbs-)Arbeitsplätze. Diese Vorstellung wird sich so lange nicht ändern, wie unser gesamtes Gesellschafts- und Sozialsystem auf diesen Beschäftigungsformen beruht. Natürlich ist es legitim, ja sogar wichtig, über Arbeitswelten jenseits der heute existierenden nachzudenken. Nur: dem Arbeitslosen des Jahres 1998, dem um seinen Job bangenden Familienvater, der ohne soziale Absicherung "prekär" Beschäftigten ist damit wenig geholfen. Ulrich Beck, als Vordenker der "Zweiten Moderne" der Schwarzmalerei eher unverdächtig, hat die Problematik benannt, indem er darauf aufmerksam macht, daß in unserer heutigen "Arbeitsdemokratie" "politische Freiheit auf der Beteiligung an Erwerbsarbeit beruht" (Ulrich Beck, Hrsg., Kinder der Freiheit, Frankfurt 1997, S. 24).

All jenen, die das Wehklagen und den vermeintlichen Pessimismus ihrer Mitbürger geißeln und jene schöne neue Welt bejubeln, in der sich der Mensch endlich vom Joch der (Erwerbs-)Arbeit befreit und in die Freizeit- beziehungsweise Freiheitsgesellschaft eintritt, muß eines entgegengehalten werden: Freiheit klingt für die meisten Menschen dann bedrohlich, wenn sie nicht mit einem Mindestmaß an (sozialer) Sicherheit - in der Gegenwart und für die Zukunft - einhergeht. Hier liegt ein großes Versäumnis der politisch Verantwortlichen: Auf die Veränderungen der Arbeitswelt, die zum Teil aktiv von ihnen betrieben, die aber zumindest von ihnen akzeptiert wurden, folgten bisher nicht die erforderlichen Maßnahmen zum Umbau der sozialen Sicherungssysteme. Wenn aber soziale Sicherheit voraussetzt, daß ein Normalarbeitsverhältnis vorhanden ist, diese Form der Beschäftigung jedoch inzwischen nicht mehr die Norm ist, entstehen in weiten Teilen der Gesellschaft Unsicherheit und Angst. Denn es macht sich zunehmend das Gefühl breit: "Es gibt keinen Ort der sozialen Sicherheit mehr" (so Martin Kempe, Die Jobwende, Frankfurt 1998, S. 24). Unsicherheit und Angst aber waren noch nie eine stabile Grundlage für Demokratie.

September 1998

Dr. Ralf Joas ist politischer Redakteur bei der in Ludwigshafen erscheinenden Tageszeitung "Die Rheinpfalz" und dort unter anderem für Gewerkschaften und Sozialpolitik zuständig.