Wolfram Burisch

"Das Leben ist Freizeit"

Über die Diskriminierung emanzipatorischer Arbeit

 

Vor nahezu zwei Jahrzehnten stimmte Theodor W. Adorno der gesellschaftlichen Prognose verhalten bei, daß "die realen Interessen der Einzelnen" immer noch stark genug seien, "um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen". Dabei war seine zuversichtliche Erwägung geknüpft an vorläufige Interpretationen einer empirischen Untersuchung, die das Institut für Sozialforschung zum Verhältnis von der sich in alle Lebensbereiche ausdehnenden Kulturindustrie und der davon vornehmlich vereinnahmten "Freizeit" durchgeführt hatte. Die der Studie vorangestellte Vermutung, dernach die Produkte der Konsumindustrie die Funktionalisierung der Wirklichkeit durch eine Überhöhung von Einzelpersonen und privaten Beziehungen kompensieren lassen könnten, ging offenbar so glatt nicht auf. "Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz daran geglaubt", was in der "Freizeit" den Menschen vorgesetzt und von diesen auch konsumiert wird. Vielleicht, ließe sich dem vorsichtig anfügen, sperrte sich noch ein Eigenwille gegen eine Angebotsstrategie, die zu offenkundig auf Ablenkung zielte.

Voraussetzung für eine realistische Abschätzung der aufgedrängten Produkte in Hinblick auf das Eigeninteresse war demnach eine zumindest ungefähre Einsicht in die direkte Beziehung zwischen Lohnarbeit und der ihr nur scheinbar entgegengesetzten "freien Zeit". Die Einsicht, daß die "Freizeitindustrie" nicht als Ausdruck einer sukzessiv errungenen gesellschaftlichen Freiheit mißzuverstehen ist, sondern der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und Einsatzbereitschaft bei wachsender Beanspruchung dient, kontrastiert der Bereitschaft, hingebungsvoll auf deren Angebote zu starren. Denn das Geschäft mit der "Freizeit" nimmt mit der anderen Hand, was sie mit der einen als vermeintlichen Arbeitsentgelt erstattet hat. Mit dem aber war die konkrete Arbeit bereits qualitativ entwertet worden, der reale Widerspruch zwischen Herr und Knecht "durch Kühlschränke eingefroren", wie Ernst Bloch nur kurze Zeit nach Adornos Anmerkung zur "Freizeit" - nicht ohne Anklang von vorausschauendem Bedenken konstatiert: Denn zwar müßte analytisches und dialektisches Begreifen verdeutlichen können, "daß die Freizeit des Proletariers nur der garnierten Reproduktion seiner Arbeitskraft dient". Den bloßen Reformern und sogenannten Technokraten scheint es aber zunehmend zu gelingen, den reifen technisch-ökonomischen Möglichkeiten entgegen die Lethargie der temporären Zufriedenheit, das Duckmäusertum, als "eine Ewigkeit von Glück" vorzutäuschen.

Damit hat Bloch eine Eventualität angesprochen, die mit der soziologischen Feststellung etwa von Ralf Dahrendorf, dernach der automatisierten Gesellschaft die Arbeit ausgehe, nur vordergründig beschrieben ist: Es erfolgt eine soziale Aufsplitterung in solche, die sich "Freizeit" durch irgendeine Tätigkeit "verdient" haben, und der wachsenden Anzahl derer, die unter ihrer beständigen "Freisetzung" leiden. Für den ökonomischen Liberalismus ergibt sich aus dieser Aufspaltung insofern eine politische Gefährdung, als sich Leerformeln wie die, daß "Leistung sich lohnen solle", als Sprechblasen für den kapitalistischen Aberglauben erweisen, wenn "Leistung" nichts anderes ist als das Besitzen eines Arbeitsplatzes, das sich durch eine Demonstration von "Freizeit" - respektive deren Ausfüllung durch Warenverschleiß - ausweist. In dieser Umkehrung allerdings, "Freizeit" als Ausweis für den Besitz eines Arbeitsplatzes, verdeutlicht sich eine ganz andere Fatalität: Zwischen Arbeit und "Freizeit" - den Zusammenhang von Produktion und Restitution - kommt es gar nicht mehr an, sondern die Freizeit fungiert als "Ausgleich in sich". Was demnach in Wirklichkeit ausgegangen ist, oder zumindest weitgehend abhanden gekommen zu sein scheint, ist der Begriff von Arbeit selbst als Tätigkeit des selbständigen Subjekts.

Empirische Untersuchungen heute unterscheiden sich entsprechend zwar nicht besonders augenfällig von den seinerzeit bei Adorno interpretierten hinsichtlich dessen, daß den Angeboten der Kulturindustrie nach wie vor nicht restlos vertraut wird. Die Altersgruppen jedenfalls, denen eine eigene "Freizeitindustrie" zubereitet worden ist, weisen eine wachsende Anzahl von "Distanzierten" auf. Es sind dies indes zugleich dieselben, die zu betonen pflegen, die Freizeit müsse jeweils vom Individuum selbst "sinnvoll gestaltet" werden. Damit allerdings wird der Freizeit etwas als "Tiefendimension" beigegeben, eine "Selbsterfüllung", die mit dem Arbeitsbegriff aus der Sphäre gesellschaftlicher Produktion abgezogen wurde: Denn die Frage nach der "Arbeit" wird zunehmend nurmehr als eine der "Arbeitsplatzsicherung", oder des "gesicherten Arbeitsplatzes" - einschließlich der Altersversorgung - verstanden. "Arbeit" ist kaum etwas anderes als die Reproduktion des Zuständlichen und Mittel der Statusorientierung, dieweil eine Konfliktbewältigung, sofern sie überhaupt vonnöten erscheint, im Freizeitbereich stattzufinden hat.

Die Fatalität erweist sich mithin daran, daß die Arbeitswelt als "in sich" problemlose gilt. Es kommt nur darauf an, einen Zugang dahin gefunden zu haben und eine für die "restlichen Jahrzehnte" ungefährdete Position abzudecken. Falls es dann noch Konflikte geben sollte, deren Verursachung ohnehin schleierhaft bleibt, wird zur taktischen "Lösung" die "Privatsphäre" herangezogen: "Sinnvolle Bindungen" oder "Gemeinschaftsgefühle" werden kompensatorisch ritualisiert, sofern nicht das Wohnzimmer als Weltersatz herzuhalten hat oder eine "Wendung nach innen" vollzogen wird. Nur in der Freizeit jedenfalls wird noch eine "zusätzliche Dimension" - "das Leben dahinter" - gemutmaßt. "Freizeit" aber ist damit die heutige Formel, mit der reale Probleme vernachlässigt, desavouiert, werden: Indem die "Arbeit" nur als Vorwand zur Freizeit dient, zur Funktion degradiert ist, wird sie als menschliche Produktion vom "Glück" ausgeschlossen.

Der technisch-ökonomischen Apparatur ist somit ein Coup geglückt, zu dessen Durchsetzung sie freilich unzähliger Helfer bedurfte, die vergessen machen ließen, daß mit der automatisierten Produktion die Verwirklichung einer Utopie gleichsam ins Haus stand. Denn die Automatisierung könnte durchaus viele lästige Betätigung überflüssig machen und die damit gewonnene Zeit, gerecht verteilt, zur freien werden lassen in dem Sinne, daß Herrschaftsinstanzen nicht in sie eingriffen. Tatsächlich aber steht in den hinlänglich automatisierten, "postindustriellen" Gesellschaften kaum etwas mehr unter dem Diktat obskurer Mächte als eben diese "freie Zeit": Den beständigen Zwang im Nacken, irgendwelchen "Sinngebungen" nachzujagen, weil in den Köpfen der "Unbegabten" - wie sie Bloch nannte - die selbstgestrickte Vorstellung von einer "Endzeit" spukt, in der es darauf ankommt, der "richtigen" Sekte anzugehören. Um selbst nichts tun zu müssen, zugleich aber die Ohnmacht masochistisch pflegen zu können, werden religiöse Versatzstücke aus allen Poren geschwitzt, die das Subjekt - nach der am Arbeitsplatz - auch in der "freien Lebenszeit" erschlagen lassen. Der "Coup" einer "postindustriellen" Herrschaft war es offenkundig, das ausserbetriebliche Verhalten - in bloßer Entgegennahme von Vorfabriziertem - als Bekenntnisakt umzubestimmen, nachdem die Betätigung im Betrieb zur "Sinnfrage" wenig mehr abgab. Und den "Freizeitlern" scheint das nur lieb zu sein, weil sich immer schon wieder andere Möglichkeiten des Ausweichens anbieten, wenn ein "Trend" Verdruß bereiten oder gar zu Widerstand "verleiten" könnte. - Insofern hat die Ökonomie ihr "Versprechen" eingelöst, von den unabsehbaren Folgen eines Aufbegehrens, der eigenen Verantwortlichkeit, "befreit" zu haben.

Der dafür zu leistende - und auch bereitwillig erstattete - Preis ist die monotone Ausübung geistloser Tätigkeit am "Arbeitsplatz"; das heißt, das stumpfe Dösen an einem Platz, dem der Sinn von Arbeit abhanden gekommen ist. Dieses Absitzen wird zelebriert, weil es immer schon notwendig war, den Göttern ein Opfer zu bringen, in der Erwartung, ihnen dadurch einen Gnadenerweis abringen zu können. Und da dieser auch unmittelbar winkt, die Embleme der Götter möglichst bereits als Markenzeichen auf der wüsten Produktionsanlage prangen, ist nicht einmal Geduld - oder deren Entsprechung als Ungeduld - notwendig, sondern nur das Abtragen der Zeit in einem Akt, der dann - beim Stundenvertreib der "Entspannung" - als "heroischer" verkündet werden soll. Für beides freilich, den Zeitvertreib "im Dienst" wie "die Entspannung davon", gilt als Voraussetzung, daß der "Arbeit" etwas Negatives - eben die "Aufopferung" religiösen Charakters - anhaftet, könnte doch sonst andernorts nicht einer mysteriösen Verklärung geharrt werden.

Daß "Arbeit" nämlich heute nachgerade ausnahmslos in "negativen Gefühlszusammenhang" gebracht wird, als "unausweichliches Übel", ist eine der Auffälligkeiten, die als "selbstredende" schon wieder unauffällig geworden sind. Sicher, wenn selbst Studierende ihre Forschungsmöglichkeiten nur als Mühsal wahrnehmen, sollte es sogar ihnen einleuchten, daß sie wohl für einen anderen Ort als die Hochschule geeigneter wären. Indes steht zu vermuten, daß auch bei ihnen - trotz der Möglichkeit anderer Erfahrungen - der Lehrsatz von der "Erhöhung", die ihre "Opfer" erforderte, eingenistet hat. Damit aber kehrte etwas von dem prekären Gehalt in der soziologischen Feststellung der "ausgehenden Arbeit" wieder: Denn mit ihr wird nicht allein konstatiert, daß diese Gesellschaft ihre eigene Aufspaltung nach äußeren Kriterien - dem Besitz eines Arbeitsplatzes - betriebe. Sondern sie sagt weitergehend - und ohne kritische Distanzierung davon - aus, daß ein Individuum um der sozialen Anerkennung willen "irgendeine" Tätigkeit kontinuierlich auszuüben habe, selbst wenn es diese als entwürdigende empfindet. Nachdem aber ohnehin durch die Automatisierung tendenziell jede "Arbeit" eine inhumane geworden ist, die dem Subjekt keinerlei Einwirkung auf die Gesellschaftsgestaltung mehr beläßt, wird die "Freizeit" - als Versprechen für den Arbeitsplatz - zur Prämie für die Entwürdigung des Menschen zum Anhängsel der Produktionsapparatur. Nur wer dem Gedanken entsagt, umgekehrt, Arbeit als Umsetzung gesellschaftlicher Interessen zu interpretieren, wird als befähigt erachtet, an der "gemeinschaftlichen Lebensfreude" zu partizipieren.

Wäre deshalb Arbeitsplatzlosigkeit nicht ohnehin ein bewährtes Instrument kapitalistischer Strukturpolitik, mit dem jederzeit gedroht werden kann und das deshalb gleichbleibend den stigmatisierenden Unterton der "Selbstverschuldung" anklingen läßt, müßte sie für die "postindustrielle" Gesellschaft eigens erfunden werden, um die Entmischung von "Arbeit" und "Empfinden" unbefragt fortführen zu können. So aber läßt sich sukzessiv an der Verächtlichmachung der bereits "vorhandenen" Arbeitsplatzlosen - wie zugleich der Rhetorik um eine Arbeitsplatzbeschaffung - klarmachen und festschreiben, was mit dieser "Entmischung" beabsichtigt ist: Durch die Entgegensetzung von "Leistung und Freizeit" einerseits, "Arbeitsplatzlosigkeit" mit allen "entehrenden Konsequenzen" - einschließlich der Diskriminierung einer "Schattenwirtschaft" übrigens, die wohl gerade deshalb erfolgt, weil eine selbstgewählte "Schwarzarbeit" möglicherweise "Spaß machen" könnte - andererseits, wird nämlich nicht nur verdeutlicht, daß einzig der Arbeitsplatzbesitzer "gesellschaftsfähig" ist. Es wird zudem erklärt, daß dessen Privilegierung darauf beruht, zwischen unreflektierter Betätigung und "privater Wertorientierung" streng unterscheiden zu können. Seine Systemkonformität hat gleichsam eine doppelte zu sein: Im Sektor der "Rationalität" wird nicht danach gefragt, zu wessen Interesse dieser etabliert sei, geschweige denn, ob damit Ansprüche auf menschliche Würde verletzt werden könnten. Demgegenüber ist der "Freizeitbereich" für "Sinn und Gefühle" reserviert, ohne daß über deren Orientierung zu befinden wäre: Haben doch längst schon alle elektronischen Medien und bunten Gazetten, Stammtische und Hobbyclubs, Lebenshelfer und Therapeuten - im "fortschrittlichen" Falle die betriebseigenen - signalisiert, daß es um "Lebensfreude und Jenseitserwartung", um "physische und spirituelle Gesundheit", um "Innerlichkeit und Erbauung" - schlicht: um die alten Werte und die wiedergekehrte Heilserwartung - geht, der nur demütig und vertrauensvoll entgegenzublicken sei: In der letzten "Freizeit" kommt sie bestimmt.

Gewiß, ein solcher Sarkasmus klänge übertrieben, wenn sich überhaupt jemand davon angesprochen vorkäme. Da jedoch "Betroffenheit" ohnedies die Formel der Sucht dieser Periode ist, der allem Anschein nach unbegrenzten Fähigkeit nämlich, alles hinzunehmen, ohne auch nur die geringste Regung von bestimmter Gegenwehr - abgesehen von Schaum vor dem Mund allenfalls - aufzubringen, dürfte sich auch dann kaum etwas am Umgang mit "Arbeit" und "Freizeit" zum Nachdenken bringen lassen, wenn daran altbekannte Strukturen wiederentdeckt werden können: Die der verbal heftig angekündigten Auseinandersetzung vom "Menschenfeind", bei gleichzeitigem Harmoniegetue mit demselben. Denn die vorgetragene Empörung oder die aktuell wirksame Verzweiflung werden in eigens dafür präparierte "Schonräume" ausgelagert, wo sie - etwa als "Identitätsdiskurse" - in sich kreisend verhallen. Die Produktionsapparatur jedenfalls bleibt derweise von störenden Einwirkungen nahezu unbehelligt. (...)

So sehnsüchtig die von einer automatisierten Produktion zur Geistlosigkeit Ausgebildeten - und einer Vorstellung von selbstverantwortlicher Arbeit Entzogenen - auch nach "ihrer" Freizeit schielen, so wenig ist damit darüber ausgesagt, ob sie deren Ankündigung von "Entspannung" regungslos vertrauen. Vielmehr lassen mancherlei Anzeichen die Annahme berechtigt erscheinen, daß die Angebote der Kulturindustrie in beiden Richtungen, Zuneigung wie Aversion, Zunahmen erfahren; und daß widersprüchliche Regungen die Individuen selbst verängstigen. Das Geschäft seinerseits kann sich dabei durch die Verlagerung von Quantitäten "auswägen". Die Angst der einzelnen jedoch wird sich als aggressive Verteidigung von vermeintlichen Besitzständen manifestieren: Dem Bestehen auf der "Freizeit an sich" als einer Verkörperung vom "gelungenen Leben", dem das potentielle Gestaltungsvermögen von eigenwilliger Arbeit kaum mehr im Begriff ist. Damit aber wäre die implizite Befürchtung von Bloch bestätigt, dernach das Duckmäusertum in der gegenwärtigen Periode sich den Namen "Freizeit" zugelegt hat.

 

Wolfram Burisch, Gesellschaftswissenschaftler und Bloch-Schüler, verfaßte diesen Beitrag im Jahr 1987. Der Autor starb 1995 im Alter von 54 Jahren. Siehe dazu auch "Wider die Regel" (Link www.talheimer.de/books/skw3.html)