Siegmar Mosdorf

Wandel der Arbeit in der Informationsgesellschaft

 

Die Initiative von Welf Schröter, einen übergreifenden Diskurs zwischen Philosophie, Wirtschaft und Arbeitswelt unter dem Dach der "Virtuellen Bloch-Akademie" zu beginnen, halte ich für wichtig und unterstützenswert. Ernst Bloch, Träger des Kulturpreises des DGB, hat mit seinen Arbeiten zum Begriff der gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeiten wesentliche Erkenntnishilfen geliefert. Bloch ist einer der bedeutendsten intellektuellen Köpfe der Nachkriegszeit. Er hat uns auch im heutigen fundamentalen, gesellschaftlichen Transformationsprozeß zur globalen Informationsgesellschaft viel zu sagen.

Noch niemals hat es bisher in der Geschichte der Demokratien einen politisch bewußt gestalteten Übergang von einer Gesellschaftsform zur anderen gegeben. Der Prozeß des Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft dauerte in den heutigen Industrieländern rund einhundert Jahre. Er war gekennzeichnet von heftigen Umbrüchen, Umwälzungen und Auseinandersetzungen, die in Teilen der Welt bis heute anhalten. Fällt es schon im Nachhinein den Historikern schwer, den Zeitpunkt des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft exakt zu benennen, um wie viel schwieriger ist es für Zeitgenossen, den sie selbst einschließenden Wandel einer Gesellschaft zuzuordnen. So, wie die Agrarier des 19. Jahrhunderts nicht wissen konnten, ob und wie eine neue "Industriegesellschaft" heraufzieht, so wenig können wir heute genau vorhersagen, ob die "Industriegesellschaft" tatsächlich einem neuen "Zyklus" Platz machen wird.

So brauchbar das Wort von der Informationsgesellschaft auch in der politischen Diskussion erscheinen mag, so wenig hält es einer Überprüfung auf seinen exakten Bedeutungsgehalt hin stand. So geben die beliebten Statistiken über die Anteile der Berufe in einer Gesellschaft (z.B. "in der Landwirtschaft Beschäftigte" oder "in Dienstleistungen Beschäftigte") letztlich nur Tendenzen an, sie bringen keine Meßzahlen. Auch die ebenso beliebte Nennung der "globalen Informationsvernetzung" als Charakteristikum einer Wirtschaft ist mit Blick auf die Fugger und Welser oder das Handelsimperium von Korinth nichts Neues, es hat sich durch Kommunikationstechniken lediglich die Geschwindigkeit gesteigert. Entkleidet man den Begriff der Informationsgesellschaft von seinen zum Teil mythisch überhöhten Konnotationen, dann findet man eine wirklich brauchbare Sammelbezeichnung für eine Tendenz, derzufolge die Bedeutung von Informationsverarbeitung in Produktion und Dienstleistung, aber auch in Politik und Verwaltung noch immer zunimmt. Insofern kann man tatsächlich von einem Prozeß der "Informatisierung" sprechen. In diesem Prozeß haben technische Entwicklungen gewiß eine bedeutsame Rolle gespielt, aber beileibe nicht durchweg die Rolle des "immer mehr". So kann man zum Beispiel feststellen, daß die hohe Bedeutung der Massenmedien für den politischen Meinungsbildungsprozeß durch den Wandel vom Binnenpluralismus zum Außenpluralismus allein durch die technisch mögliche "Programmvermehrung" nicht durch demokratiegefährdende Potentiale geschmälert wurde, sondern daß Wettbewerbswirkungen (ähnlich wie im Printbereich) in Ansätzen demokratieunverträgliche "Entpolitisierungen" mit sich brachten. Hierauf hat die Politik bereits durch die Bestandssicherung für das öffentlich-rechtliche Prinzip in Teilen reagiert. Das neue Medium der Online-Dienste, für das zur Zeit das Schlagwort "Internet" stellvertretend steht, könnte mit prinzipiell denselben ordnungspolitischen Instrumentarien ausgestaltet werden, aber es sind Modifikationen unausweichlich.

In einer Zeit des raschen wirtschaftlichen und technischen Wandels ist wichtig, was bleibt. Der Ankerpunkt jeder zukünftig denkbaren Gesellschaft bleibt das gesellschaftliche Prinzip der Demokratie, unter deren Spielarten sich die repräsentative "europäische" Demokratie als die "best practice" herausgestellt hat. So, wie es mit dem Schutz der Menschenwürde (einem Ziel, dem sich auch eine demokratische Informationsgesellschaft vorrangig zu unterwerfen hätte) unvereinbar wäre, einer Maschine politische Entscheidungskompetenz zu übertragen, so gesellschaftlich unwürdig wäre es auch, weitergehende partizipatorische Elemente in den Willensbildungsprozeß nur deshalb einzubauen, weil dies kommunikationstechnisch möglich ist. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn im 21. Jahrhundert neue partizipatorische Möglichkeiten in unseren repräsentativen Demokratien gebraucht werden (und vieles spricht dafür), dann sollte man dafür auch die modernsten Techniken in den Dienst stellen.

Der Standort Deutschland steht vor einer seiner schwierigsten Herausforderungen: Zum notwendigen Strukturwandel im industriellen Sektor und dem Umbau zu mehr produktionsorientierten und qualifizierten Dienstleistungen kommt hinzu, daß Wirtschaft und Arbeitswelt in einem zähen Innovationsstau stecken. Die Modernisierung zur Informationsgesellschaft trifft auf Hemmnisse, Widrigkeiten und mangelnde Handlungskompetenzen. Dabei sind die Richtung und das grobe Ziel durchaus konsensfähig: Es geht um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dies wird in weiten Teilen nur dadurch vonstatten gehen, daß die Potentiale der neuen Informationstechnologien rasch und flexibel nutzbar gemacht werden. Die Anwendungen von Telekommunikation und Multimedia erlauben neue Formen des Wirtschaftens und neue Wege der Wertschöpfung. Die Arbeitswelt wird in Zukunft ohne die Nutzung von Datenautobahnen kaum mehr denkbar sein. Unumgänglich sind für alle Beteiligte, Tarifpartner wie Staat neue Ansätze für Innovationen und Innovationsförderungen. Nur wer sich bewegt, wird aus dieser Strukturkrise erfolgreich herauskommen. Wer starr bleibt und sich nur an altem Denken festklammert, den drängt die globalisierte Weltwirtschaft ins Abseits.

Was aber heißt dies für unser Verständnis von Arbeitsorganisationen und Arbeitskulturen? Wird sich die Zukunft der Arbeit linear aus dem Gedankengebäude der Vergangenheit ableiten lassen? Gewiß nicht! Zugleich aber werden jene, die beim Modernisierungsprozeß keine Bodenhaftung haben, keine Sensiblität für die Bedürfnisse und Anforderungen der Arbeit und der Beschäftigten von morgen entwickeln. Wenn es uns nicht gelingt, die Tragweite des tiefgreifenden Wandels zu erkennen, der mit dem Einsatz der Netztechniken verbunden ist, wird uns der Gestaltungsspielraum Tag für Tag verengt werden. Diese Lehre gilt für Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik. Erforderlich ist ein nüchterner und unvoreingenommener Blick auf die tatsächlich ablaufenden Prozesse. Wir müssen ehrlich gegenüber uns selbst sein: weder Technikeuphorie noch Technikverteufelung bringen uns weiter. Ein offensives und innovatives Gestalten ist gefragt, kompetent und unkonventionell, teamfähig und wirtschaftlich.

Arbeit verstehen wir noch immer in der Regel als Normalarbeitsverhältnis. Unser Bild ist geprägt von industrieller, tarifrechtlich abgesicherter Erwerbsarbeit, die früher von der Ausbildung bis zur Rente nur einen Job in meist ein und demselben Unternehmen kannte. Oft hat der Vater dann noch seinen Sohn im selben Unternehmen untergebracht. So entstanden die Kruppianer oder die Mercedesbiographien. Heute müssen wir erkennen, daß dieses Bild von Arbeit bereits überholt ist. Der Kostendruck der neuen Wettbewerbsarena in der Welt und der Innovationsdruck, vor allem durch die Informations- und Kommunikationstechniken führen zu fundamentalen Änderungen: Merkantile Strukturen verlieren ihre Dominanz, bürokratische Behördenstrukturen, nicht nur im Staat sondern auch in den Unternehmen, werden durch neue Kompetenzhierarchien ersetzt, die neuen Typen der Arbeit und der Arbeitsorganisation und die am besten qualifizierteste Frauengeneration der Geschichte verändert die Kulturen und Strukturen unserer Arbeitsgesellschaft. Wir müssen wieder lernen in neuen Zusammenhängen und gesellschaftlichen Infrastrukturen zu denken, um die Dimensionen und Potentiale ermessen zu können.

Wenn man versucht, durch das Fenster des 21. Jahrhunderts zu schauen, erhält man Anhaltspunkte für die Ökonomie einer Informationsgesellschaft: In der digitalen Ökonomie wird ,Information‘ zum Produktionsfaktor Nr. 1 und zur Ware zugleich. In ihr gibt es die Mega-Strukturen der Industriegesellschaft - gigantische Fabriken, die den gesamten Weltmarkt von einem Zentrum aus mit Gütern und Dienstleistungen versorgen - nicht mehr. Vielmehr wird dann zentral gesteuert, aber dezentral auf den Absatzmärkten produziert in quasi transnationalen Unternehmen. Das alles kann durch die neuen Informations- und Kommunikationstechniken on-line passieren: Das heißt, es wird eine Verbundforschung und -produktion über die Zeitzonen hinweg geben. Für Großprojekte der Infrastruktur werden virtuelle Unternehmen in zeitlich befristete Konsortien gebildet. Aus weltweit agierenden Großkonzernen werden Netzwerke.

Bezogen auf das Thema ,Wandel der Arbeitskultur‘ bzw. ,Zukunft der Arbeit‘ wird dies bedeuten müssen, daß uns der Einsatz moderner Telekommunikation vielfältige Formen der Flexibilisierung unserer bestehenden Arbeitskulturen als Chance oder als neues Problem eröffnet. Es ist unter den Akteuren der Telearbeitsdiskussion weitgehend Konsens darüber erreicht, daß eine rasche Ausbreitung von Telearbeit und Telekooperation die begonnene Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses erheblich beschleunigt. Dies gefährdet den Vollzug traditioneller Sicherungsreglements, wenn der Prozeß unabgestimmt und allein an globalen Marktverläufen orientiert vorangeht. Aushandlungsprozesse und regionale Innovationskooperationen könnten helfen, die nützlichen Seiten der Flexibilisierung zu stärken und die Gefährdungen zu begrenzen.

Die beginnende Vitualisierung der Arbeitswelt, das Entstehen virtueller Unternehmensstrukturen wie auch die Entwicklung der softwaretechnischen Lösungen für intelligentes Wissens- und Dokumentenmanagement lassen erkennen, daß wir in naher Zukunft unter Arbeit besonders auch selbständige Beschäftigungsvarianten sehen müssen. Darauf ist die Wirtschaft, sind die Tarifpartner und die Politik noch zu wenig vorbereitet.

Doch mit dem Thema ,Wandel der Arbeitskultur‘ ist nicht nur das Profil, die Qualität und die Form der Arbeit gemeint. Die Analysen müssen tiefer gehen. Zu recht begreifen wir die Problematik als unvermeidlichen Anpassungsprozeß unseres ökonomischen, öffentlichen und sozialen Gefüges an veränderte globale Rahmenbedingungen. Die grundsätzliche Diskussion um den Umbau des Job-Systems ist eröffnet. Positionen in dieser Kontroverse müssen berücksichtigen, daß auf der technischen Seite ein neuer Produktivitätssprung möglich wird, wie die Arbeiten über systemische Ansätze des Workflow- und Knowledge-Managements zeigen. Unsere Antworten für neue Rahmenbedingungen des Arbeitens müssen auf dem neuesten Stand technischer und prozeßorganisatorischer Innovationen basieren. Erforderlich sind virtuelle Wertschöpfungsketten und deren Verankerung am regionalen Standort. Flexibilisierung meint nicht nur die Arbeitswelt, sondern die Kernstrukturen der Industriegesellschaft. Das ,industrielle Prinzip‘ steht auf dem Prüfstand.

Bonn, September 1998

Siegmar Mosdorf, MdB, Vorsitzender der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Die Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft ? Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" (Multimedia-Enquête)