Gerd Koch

Theaterpädagogische Prozesse als "Lebensgewinnungsprozesse" (Marx)

 

1. "Man soll, um es mit Kant zu sagen, immer die Utopie ... gegen die Berufung auf das Vorfindliche in Schutz nehmen. Sonst werden wir Miglioristi, d.i. Leute, die sich mit Verbesserungen des Bestehenden begnügen und die Fähigkeit zu grundlegender Kritik verlieren" (A. Gorz 1991).

 

2. "Als der Golfkrieg war, hab’ ich mich schon gefragt, warum ich abends ins Theater fahre und ,Nathan der Weise‘ spiele. Aber ohne Hoffnung kann man nicht leben - darauf, sich mit Theater, mit Kunst, mit Sensibilisierung gegen Dinge zu wehren, darauf, daß Leute doch immer noch Bücher kaufen und doch Beethoven und Bach hören und doch Sarah Kirsch lesen und Enzensberger lesen und Walter Jens ab und zu und Hans Mayer und wie sie alle heißen" (D. Mann 1991).

 

3. Psychologen kennen den Begriff und die Sache des "Möglichkeitsraumes", d.h. eines zur Disposition stehenden raum-zeitlichen Gebildes im Subjekt/fürs Subjekt. Hier ist noch nicht alles entschieden; auch sind der Bewußtsein und Verhalten formierende Druck sowie der Zwang der Selbstverpflichtung und -bezichtigung noch diffus und zur Entscheidung offen. Theater(pädgogische)-Arbeit als geselliges Probehandeln hätte hier - wenn man so sagen darf - seinen utopischen Ort.

 

4. Utopische Orte: Ein Widerspruch! Dennoch: Mit Ernst Bloch gilt es, Orte des Noch-Nicht, der sich konkretisierenden Utopie, des Vor-Scheins zu machen. Orte theatralen Handelns wären wohl solche.

 

5. "Max Webers Definition zufolge soll Handeln ein menschliches Verhalten heißen, mit dem der oder die Handelnde(n) subjektiven Sinn verbinden. Sozial wird dieses Handeln genannt, wenn dieser subjektive Sinn auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. Subjektiver Sinn wird als subjektiv gemeinter Sinn qualifiziert" (H. Bude 1991).

 

6. Die im Theater-Spiel-Prozeß Handelnden leben (eben auch) im Hier-und-Jetzt, und der prospektive, lebendige Handlungsort Theater-Spiel läßt sie im Felde des Wunsches agieren, läßt Alltäglichkeit überspringen ...

 

7. Das Beispiel Überspringen: Im Theater sind manche ,Gesetze‘ (auch der Natur) und gesellschaftliche Gepflogenheiten aufgehoben - zumindest kann geübt werden zu fliegen, Rollen zu wechseln, Perspektiven und Zeiten zu verschieben, größere Sprünge zu machen und nicht wie im sog. Wirklichen Leben als Hochstapler im Gefängnis zu landen. Wenn das nicht konkret und utopisch ist?!

 

8. Stichwort Aufheben: Theaterpädagogik und der dialektische Dreisprung: Bewahren, anheben, vergessen machen. Die ,Hebel-Wirkung‘ des Theater-Spiels: "Der Hebel ist nämlich eine sogenannte einfache Maschine ... (er) überlistet ... das Schwere im Körper ... Die (Hebel-)Mechanik wendet die Gesetze der physikalischen Natur listigerweise so um, damit sie die Natur überwinden möge ..." Der "Hebel ... eine Maschine zum Empören aus der Niedertracht ... eine Maschine zur Menschwerdung ..." (Vilém Flusser 1991).

 

9. "... die freie Entwicklung eines jeden (ist) die Bedingung für die freie Entwicklung aller ..." (Karl Marx/Friedrich Engels).

 

10. Individualisierungsprozesse in einer Gesellschaft der Pluralitäten/pluralistischen Lebensentwürfe: Steigen der Anforderungen an die Subjekte: Aufstiegszwang, Scheitern, individuelle Schuldzuweisung für kollektiv Verursachtes, Verlust kollektiver Sicherungen, Enttraditionalisierung, massenmediale Gängelung als Zuckerbrot und Peitsche, als Freiheits- und Freizeit-Ver-Sprechen (in widersprüchlicher Hinsicht), als Konsumismus. Theaterpädagogische Arbeit kann hier/könnte hier der (scheinbaren) Verbesserung den plastischen Vor-Schein eines Anderen bieten, aber auch das Jetzige aus der soziologischen Formelwelt in "Leibnähe" (Bloch) überführen (= Theorie in Bild und Spiel).

 

11. Das Theater-Spiel als utopischer Ort ist aber nicht nur Vor-Schein-Welt und -Platz des S(s)chönen(,) Wünschenswerten, sondern ebenso Schauplatz und Handlungsort der Negativität des S(ch)eins: jedoch illustrativ, imaginativ (bildlich), nicht als Thesenpapier. Oder - um Karl Marx zu paraphrasieren -: Das Theater-Spiel kann menschliche Verhältnisse "ad hominem", "anthropomorphisierend" (Georg Lukács) vor-zeigen und dies unter gleichwertiger Übung von Individualität und kollektiv-geselligen Prozessen.

 

12. Eine pädagogisch-politische Maxime zu alledem:

Theater-Spiel muß die Beteiligten dort abholen, wo sie stehen. Gut. Aber eine andere Maxime nimmt die Subjekte vielleicht mehr ernst. Also:

Theater-Spiel-Pädagogik muß mit den Beteiligten im Rahmen ihrer noch nicht realisierten Potentialität arbeiten. - "Da ist viel im Menschen, sagen wir, da kann viel aus ihm gemacht werden. Wie er ist, muß er nicht bleiben; nicht nur, weil er ist, darf er betrachtet werden, sondern auch wie er sein könnte. Wir müssen nicht von ihm, sondern auf ihn ausgehen" (Bertolt Brecht). Also: Auf die Subjekte zugehen und mit ihnen über sie hinausgehen - letzteres ist wohl das eigentliche Auf-sie-Zugehen. Und Theater-Spiel-Pädogogik ermöglicht in seinem Arrangement dieses: Es wird dann in Selbstaussagen der Beteiligten als ein Selber-über-sich-Hinausgehen bezeichnet.

"Transzendenz in der Immanenz" (Ernst Bloch). Es finden Versuche der "Selbstverständigung" (Bertolt Brecht in seiner Lehrstück-Arbeit) im Medium der antizipierten "Selbsttätigkeit" (Karl Marx), was ja auch mit Autonomie zu übersetzen wäre, statt.

 

13. "Adorno hat sehr deutlich gemacht, daß die Vorstellung einer menschlichen aufgeklärten Gesellschaft selbst zu einem falschen Mythos geraten kann, daß die Aufklärung selbst ihrem eigenen kritischen Anspruch unterliegen muß. Es ist also nicht festgeschrieben ...., wie alles sein wird. Kein totaler Entwurf, wie sich Gesellschaft und Mensch zu entwickeln haben, ist endgültig zu verfertigen. Festzuhalten ist aber an einer Vorstellung davon, ohne sich dieser Vorstellung in einer Weise zu unterwerfen, daß sie selbst nicht mehr kritisch reflektiert wird" (Siegfried Willigmann 1989).

 

14. "Nach dem Ende der Aufklärung bleibt nur noch die Kunst" (Heiner Müller 1991).

Unser Theater "entsteht aus Vorfällen und Situationen, aus dem, was passiert ..." (Dario Fo 1978).

 

15. Volker Braun formuliert literarisch einen wesentlichen Aspekt des Theater-Spiels als Lebensgewinnungsprozeß in seiner Geschichte "Die Bretter", die vom Einstudieren eines Theaterstückes im Kontext von persönlicher Freundschaft und politischer Krise (Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die ÇSSR) handelt: Die Spieler sind zugleich Personen, die in politische wie private Querelen eingebunden sind. So wird die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem aufgehoben, und auch das Theater verliert seinen Charakter, ein Arkanbereich zu sein. Die an der Inszenierung und am sozialen wie politischen Geschehen Beteiligten erkennen den "unentwickelten Zustand" des Theaters: "Den Zuschauern eine kritische Haltung - das genügt nicht mehr. Es muß eine praktische sein. Die Zuschauer, und nicht nur im Saal, müssen einbezogen sein in ein ständiges öffentliches Proben gesellschaftlicher Lösungen. Kein Vorspielen und Ansehen von ,Abbildern‘ - sie müssen es mit machen, sich das Bild machen (Hervorhebung im Original). Vorweggenommene Praxis im Versuchsstadium, wo die Kosten der Experimente ertragbar sind. Ja, Gruppen können ihre Möglichkeiten durchspielen und üben, alles übrige ist Museum. Das Vorurteil gegen die Anmaßung der Bühne wäre dann hinweg" (Braun 1972).

 

16. "Das ist Theater: die Kunst uns selbst zu betrachten" (Augusto Boal 1989).

 

17. "Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen" (Max Reinhardt 1930).

 

18. 1991 wirb das Theater in Hannover so: "Theater - der letzte Platz für Phantasie" - nicht so bescheiden KollegInnen: Das Theater und sein Spiel der erste Platz für Phantasie, die erste Adresse am Ort - aber kein Refugium (Schutzbunker), sondern ein "dramatisches Laboratorium" (Walter Benjamin), eine "paradigmatische Anstalt", wo "Proben aufs Exempel" (Ernst Bloch) veranstaltet werden, auf daß es die uns reduzierenden Zustände nicht mehr so gemütlich haben.

September 1998

Prof. Gerd Koch

Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin