Irene Scherer

Vernetzungen enttäuschter Hoffnung

 

"Diese Utopie ist eine konkrete, sie glaubt, daß eine positive Veränderung möglich ist." Karola Blochs Äußerung zur Blochschen Philosophie der Hoffnung trifft (immer noch) den Kern der heutigen (An-)Forderungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen, denen sich viele verweigern, manche sie annehmen. Komplexe Zusammenhänge, unübersichtlicher werdende gesellschaftliche Strukturen und erlebte oder vorweggenommene Brüche der eigenen Lebensentwürfe werden zu Scherben persönlich-biographischer Enttäuschungen. Die Scherben mit anderen Augen zu betrachten, neu zu sortieren und sinnvoll mit bislang unbeachteten Steinen und Verbindungselementen zusammenzufügen, heißt an einer konkreten Utopie arbeiten, die "enttäuschte Hoffnungen" (Bloch) als "geprüfte Hoffnung" (docta spes (Bloch)) miteinbezieht. "Ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch findet sich im Leben weit besser zurecht als einer, der metaphysische Illusionen immer noch nötig hat" (Eberhard Braun).

In der heutigen Arbeits- und Berufswelt werden die Anwendungen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien zu einem mehr und mehr bestimmenden Faktor im Wandel der Arbeit. Die Chancen dieses Wandels liegen vor allem in daraus entwickelbaren neuen Modellen der Arbeitsorganisation und der daraus resultierenden Zeitsouveränität für die Einzelnen. Arbeit erhält in diesem Zusammenhang einen anderen, neuen Stellenwert. Die Übergänge zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit werden durch die Möglichkeit des ortsunabhängigen Arbeitens fließender.

Die nachfolgenden Thesen versuchen zentrale Merkpunkte der gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar zu machen, die solcherart Veränderungen einer analytischen Diskussion zugänglich macht und vor allem gestaltende Initiativen im Blick hat. Die Frage des Geschlechterverhältnisses und dabei vor allem die möglichen Chancen von Frauen innerhalb dieser Veränderungsprozesse stehen dabei im Mittelpunkt.

1. Die Entwicklung der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft beruht technisch auf neuen weltweiten Vernetzungsmöglichkeiten, multimedialen Produkten mit Interaktivität und der Durchdringung aller Arbeits- und Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnik. Im Erwerbsarbeitsbereich wird die Informationsgesellschaft von einer raum-zeitlichen Entkoppelung von Erwerbsarbeitsprozessen und -strukturen geprägt. Dies führt zur Flexibilisierung der Erwerbsarbeit hinsichtlich der Arbeitsmenge, der Arbeitszeit und des Arbeitsortes.

2. Informations- und Kommunikationstechnologien zeichnen sich durch eine große Gestaltungsoffenheit aus. Die Auswirkungen dieser Technologien auf die Beschäftigungssituation von Frauen und Männern sind nicht durch die Technik an sich bedingt, vielmehr durch ihre konkrete Ausformung und ihren spezifischen Einsatz im Unternehmen. Welche Arbeitsorganisation, gestützt auf eine bestimmte technische Ausgestaltung, gewählt wird, hängt immer von Einschätzungen, den erwünschten Erwartungen und den daraus folgenden Entscheidungen ab.

3. Die frauenspezifischen Benachteiligungen und Chancen, die beim Einsatz von IuK-Technologien entstehen, sind nicht grundsätzlich neu. Vielmehr berührt der Einsatz dieser Technik klassische gleichstellungsrelevante Bereiche. In der derzeitigen Entscheidungs- und Gestaltungsphase über den Einsatz der IuK-Technologien gilt es die Chancen für Frauen herauszuarbeiten und bei der Einführung der IuKTechniken zu verankern.

4. Flexibilisierungstendenzen der Arbeitsorganisation führen zu einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bis hin zur "Entbetrieblichung der Arbeit". Die Anzahl der Beschäftigten, die einer lebenslangen Vollzeiterwerbstätigkeit mit festen Arbeitszeiten und an einem Ort nachgehen, wird stetig zurückgehen.

5. Die "Entbetrieblichung der Arbeit" führt für Männer und Frauen gleichermaßen vermehrt zu neuen Formen der Erwerbsarbeit in abhängig-selbständiger Tätigkeit ("Scheinselbständigkeit") bis hin zu selbständig-selbständiger Tätigkeit (oder Mischformen). Erwerbsarbeitsmodelle, die bislang vornehmlich für Frauen galten, Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, Teilzeitarbeit werden zunehmend auch für Männer Gültigkeit haben. Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die klassische Aufteilung des "Familienernäherers mit lebenslanger Berufsbiographie" und der "Familienversorgerin mit phasenweiser Berufstätigkeit" wird immer brüchiger.

6. Immer mehr Frauen realisieren ihre veränderten Lebensentwürfe. Für immer mehr Frauen ist Berufstätigkeit ein zentraler Bestandteil der eigenen Biographie (geworden). Gleichzeitig wollen sie auf ihre Tätigkeit in der Familie, im sozialen, kulturen und politischen Bereich nicht verzichten. Unter dem Primat des Normalarbeitsverhältnisses ist die Vereinbarung dieser Bereiche schwierig und verlangt bereits heute von Frauen eine hohe Flexibilitätsbereitschaft und organisatorisches Planen.

6. Die Flexibilisierungstendenzen beinhalten zahlreiche Chancen, aber auch Risiken für die individuelle berufliche und persönliche Lebensgestaltung. Insbesondere die mit dieser Entwicklung einhergehende Zeitsouveränität bietet vor allem Frauen (aber auch Männern) größere Möglichkeiten Berufs- und Reproduktionsarbeit zu vereinbaren.

7. Frauen haben eine lange Tradition im Umgang mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und phasenweiser Lebensplanung. Dieser Umstand kann sich in der heutigen Umstrukturierungsphase als Vorteil erweisen. Die neuen Anforderungen wie erhöhte Fähigkeit zur Selbstorganisation, Umgang mit parallelen Anforderungen, Aneignung neuer Kenntnisse und Fertigkeiten kommen dem weiblichen Sozialisationsmuster entgegen.

8. Bereits heute zeigt sich, daß (hoch-)qualifizierte Frauen von den veränderten Arbeitsstrukturen profitieren. Unter den Selbständigen deuten im Moment die Prozesse darauf hin, daß qualifizierte Frauen über Einstiegsvorteile auf dem Markt verfügen. Sie sind gut geschult, vielseitig und schneller. Andererseits sind schlecht qualifizierte Frauen beim Wandel der Arbeitswelt eher auf der Verliererseite.

9. Die neuen Modelle der Erwerbsarbeit erfordern ein Umbau des sozialen Sicherungssystems, das auf die Diskontinuitäten innerhalb der Erwerbsareit reagiert. Insbesondere müssen Frauen verstärkt eine eigenständige soziale Sicherung erhalten.

10. Neue Vernetzungsstrukturen, regionale Zentren für Austausch und Vermittlung können den Einstieg in diese veränderte Arbeitswelt erleichtern und durch praktisches Erfahrungswissen den Umbau der Industriegesellschaft im Interesse der einzelnen Mitglieder voranbringen. Flankierende sozial-, familien und frauenpolitische Rahmenbedingungen bleiben notwendig.

September 1998

Irene Scherer, Leiterin des "Netzwerk Telearbeit und Frauen" Baden-Württemberg