Anne Frommann

Rhythmus - Modul - Horizont

 

1.)

"Spüre mich leicht atmen,

hin und her, koche leise.

Merkte auch, dass ich taste,

schrie, hörte aber nichts.

Manchmal ist noch alles danach,

so flüchtig und warm,

weder hier noch dort.

Wird es heller, so kommt

das Kriechen, oder man

kauerte herum."

EB (Spuren)

Rhythmisch geht es zu am Beginn des menschlich-kreatürlichen Lebens, Körper und Seele erleben ununterscheidbar die Wehen der Geburt, die Fülle und Leere, die schlimme Verlassenheit und das gestillte Dazugehören. "Geist, der sich erst bildet", findet sich vor oder wächst hinein in diesen Prozess des Daseins, Verlangens und Staunens.

Jede Selbsttätigkeit des kleinen Kindes innerhalb der rhythmisch bewegten Grenzen von Hell und Dunkel, Müdigkeit und Kraft ist Glück, Bestätigung des Willkommenseins und der künftigen Autonomie: "Ich kann das schon."

Die grossen Aufgaben der Assimilation - Anverwandlung der Umwelt - und Akkomodation - Anpassung an dieselbe - bilden das Instrument des Ichs, ja bilden es überhaupt erst aus durch den Rhythmus von Fordern und Gewähren, mit dem der kleine Mensch zu leben lernt.

Der Versuch, kindliche Entwicklungsschritte mit Menschheits-Geschichte zu parallelisieren, war nie unbestritten (magische Phase, mythische Phase, realistische Phase etc.). Das ändert jedoch nichts daran, dass tatsächlich jedes Kind in den ersten Lebensjahren in seiner Wahrnehmung, seinem Verhalten und seinen Spielen an historisch vergangene Zeiten und deren kulturelle Wirklichkeit erinnert.

Kinder sind noch nicht auf der Höhe ihrer Zeit, - wie sollten sie auch! Deshalb lässt sich die Grundforderung der Erziehung auch fassen als die nach Zeit und Raum für Entwicklung, nach Schutz vor der Gewalt der Erwachsenenwelt und bildender Anregung. Dies alles ist nicht neu.

Aktuell ist die wiederum verschärfte Auseinandersetzung zwischen den Instrumenten und Ausrüstungen gegenwärtiger Technik und den dadurch verursachten Bedingungen kindlichen Lebens.

Die Methoden des geistig-seelischen Lernens im Kindesalter, noch gefärbt und getönt von den organismischen Rhythmen, treffen auf Verkehrsmittel und Unterhaltungs-Elektronik, Kommunikations-Technik und ihre Images mit dem ursprünglichen Bedürfnis, sich anzupassen und sich Bedeutsames anzueignen. Die offenbar leichte Bedienung der Apparate verstärkt deren Faszination und zwingt zugleich das Kind, die Gesetzmäßigkeiten der Technik anzuerkennen. Eine Geschichte mit bewegten Bildern im Fernsehen kann nur ablaufen oder abgestellt werden. Nachfragen sind nicht möglich, die Stimmen sind fremd, die Ästhetik zwingend und unbemerkt in die Innenwelt der kleinen Zuschauer eindringend. Schon zur Kindergartenzeit gehorchen die Wünsche den Gesetzen der Bildermacher, gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen der Werbung und den Märchen. Die technische Perfektion ist so früh zum Genuss geworden, dass nur wenige Kinder die einfachen Geschichten und Lieder von ihrem nächsten Menschen der Selbstversorgung am Apparat vorziehen. Auch ist die Reihenfolge von Wort und Bild aufgehoben, es gibt beides gleichzeitig, die innere "eigene" Produktion von Bildern wird wenig gebraucht. Wie mag es unter diesen Umständen um die - kindliche - Symbolisierung der grossen und kleinen Fragen an das Leben bestellt sein ? Die elektronischen Medien benutzen die alten Geschichten und kleiden sie neu ein. Die Tagträume und die Wunschbilder sind "alt", was ihre Inhalte angeht - auch die Computerkinder sehnen sich danach, Held oder Prinzessin, Ritter, Fee oder mindestens ein zauberndes Kind zu sein. Es wird aber sichtbar, dass viele Märchen und Geschichten das elektronische "Outfit" schlecht vertragen. Sie verlieren ihren Zauber, werden banal oder primitiv, sie halten nicht mehr lange und müssen rasch ersetzt werden. Welche Wirkung das auf die Eigenwelten der Heranwachsenden hat, wissen wir nicht recht. Wo nehmen sie die Tiefe her, in der die grossen Rhythmen von Trennen und Wiederfinden, von Liebe und Hass, Macht und Ohnmacht, Geburt und Tod ihr Leben lang bestehen können?

 

2.)

"Norbert Wiener hat

einen Super-Rechenautomaten

aufgebaut, und als er gefragt

wurde, ironisch, wie sich

von selbst versteht, ob dieser

neue, dieser gigantische Homunculus

zuletzt, nach weiteren

Verbesserungen, auch Todesfurcht

ausdenken könne,

hat sein Erfinder skurriler

Weise das durchaus bejaht.

Er fügte hinzu, die Logistik-

Maschine werde ein kompletter

Denker, ein auch metaphysisch

kompletter Überdenker."

EB (1951)

Nicht nur Kinder werden, vor den heutigen Rechnern von dem wenig befriedigenden Gedanken heimgesucht, dass sie zu klein sind, um sich mit deren Informationsfülle sinnvoll bereichern zu können. Vielleicht fragen die Niedergeschlagenen dann im Internet nach, wem es ähnlich ergeht. Das Erkennen der Grenzen dieser künstlichen Gehirne führt bei manchen zu einer neuen Hochschätzung menschlichen Erlebens. Bei anderen überwiegt die bange Frage, ob der Computer auf Dauer mit seiner dienstbaren Rolle zufrieden sein wird, wenn er so weit kommt, seine Überlegenheit zu erkennen über die langsamen und individuell assoziierenden menschlichen Gehirne.

Vorläufig unterstützen die elektronischen Denksysteme die Auflösung der Grenzen von Wirklichkeit und verschiedenen Virtualitäten. Sie halten ihre Bytes jederzeit zugänglich und abrufbar bereit, ihre Formulierungen und Arbeitsvollzüge sind wiederholbar, die Entstehung ihrer Kombinationen transparent. Ihr Wissen ist grenzenlos transportierbar.

Sie können all das, was Schülern und Schülerinnen jahrelang Mühe macht, und das so perfekt, dass Schulen und LehrerInnen dagegen chancenlos erscheinen.

Das Funktionieren, die Technisierung vieler Denk-Vorgänge ist "uns" weit überlegen. Daher ist offensichtlich das Bloch`sche Bild vom Menschen als Tierbändiger, Dresseur der Naturkräfte nicht mehr zutreffend. Vielmehr ist eine millionenfach reproduzierbare chinesische Nachtigall entstanden, die "schöner" singt als die lebendige. Deshalb fällt kaum jemandem ein, sich um die nahezu ausgestorbene natürliche Nachtigall zu kümmern. Nur wenn die Mechanik des künstlichen Vogels hakt, wird der Wunsch laut nach einem noch weniger störanfälligen Modell mit noch weiteren artifiziellen Liedern.

Nach Programmen der Abwehr von Todesfurcht werden diese Vögel wohl kaum gefragt werden.

 

 

3.)

"Und keine Lage, in die

wir uns brachten, gar

in die wir gebracht wurden,

ausgebeutet und gar erst

ausbeutend, war das, was

eine menschliche genannt

werden konnte. Diejenige,

welche zu uns passt, muss

erst noch gefunden,

erkämpft werden."

EB (1910)

Gegenwärtig sieht es so aus, als ob es nur Sachzwänge und Märkte gäbe. Die "freie selbsttätige Arbeit" auf die André Gorz hofft, die Rettung des Humankapitals braucht die besten und modernsten Instrumente, um gegen den rasenden Turbo-Kapitalismus aufzutreten. Ist da die Kommunikations-Technik nicht gerade recht? Aber gilt das auch umgekehrt? Hat der Computer und die Datenautobahn eine Neigung zum demokratisch-sozialistischen Ringen um menschliche Verhältnisse, zum ökologischen Humanismus und seiner Ehrfurcht vor dem Leben und seinen Rhythmen? Darauf gibt es noch keine Antwort. Auch Gewaltphantasten jeder Art, faschistische und rassistische Klüngel, mafiöses Finanzgebahren und jede pure Verrücktheit bedient sich der technischen Mittel, die ihre eigene Verfügbarkeit nicht denken können.

Die Handlungs- und Denkfähigkeit, die den heutigen Herausforderungen in Pädagogik und Politik gewachsen wäre, kommt nicht "aus" der Technik. Diese hat nur die Gefahren verschärft und daher deutlicher sichtbar gemacht. Sie transportiert jede Nachricht überall hin. Ob wir aber die Nachricht als schadend oder rettend erkennen, entscheidet sich an unserer Fähigkeit, Wirklichkeit und Betrug zu unterscheiden.

Oktober 1998

Anne Frommann

Vorsitzende des von Karola Bloch gegründeten "Vereins Hilfe zur Selbsthilfe" zur Integration von Strafentlassenen