Richard Scherer

Einige Thesen zur kritische Utopie als Analyse des Raums des Möglichen

 

1. Die Funktion der Utopie, das platt Gegebene, die leere Selbstverständlichkeit aufzubrechen und durchsichtig zu machen auf Genese und mögliche Zukünfte, ist bekannt. Ihre Nützlichkeit und Rechtfertigung liegt in dieser Aufdeckung der verschwiegenen und unbegriffenen Voraussetzungen des Gegebenen, der hergebrachten Ordnung, der vorgeblich ehernen Gesetze, sie seien anthropologisch begründet oder ökonomisch ("der Mensch/der Markt ist eben so"). Die Hölle ist der Ort, an dem ein anderer nicht mehr vorstellbar ist.

2. Dabei geht es um mehr als um bloße Träumerei, um mehr als den einfachen Gegensatz. Jedes Gegebene muß als Resultat wiedergefunden und rekonstruiert werden. "Das utopische Paradoxon bricht die Doxa auf" (Bourdieu). Dies ist die kritische Funktion der Utopie. Die Gegenwart wird so erkennbar als Resultat der Kämpfe der Vergangenheit. Jede Position im sozialen Raum enthält diese Kämpfe, erhält durch sie Struktur und Tönung. Es wäre anderes möglich gewesen, aber der Ausgang der Kämpfe, vorläufig die Gegenwart, ließ dies nicht zu.

3. Je genauer ? und das heißt auch: materialreicher ? die in den einzelnen Gruppen, Klassen und Klassenfraktionen enthaltenen Kämpfe analysiert werden, desto vielschichtiger wird, vorerst nur für das Denken, der Raum des Möglichen. An dieser Stelle ist die kritische Utopie im Bereich der Wissenschaften die Klammer zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften, die auch eine Analyse der Konstitution der Objekte und der Position der Wissenschaftler/Intellektuellen im sozialen Raum möglich macht.

4. Viel ist die Rede seit einiger Zeit von technischen Mitteln, die eine veränderte Gesellschaft heraufführten und die Richtung der möglichen Veränderung festlegten. Gegen diesen seltsamen Materialismus ist zu sagen, daß technische Mittel nur Mittel in den Kämpfen sind, also für die eine oder andere Gruppe oder Klasse nützlich anzuwenden. Zur Erinnerung: die Inkas kannten das Rad, ohne es zu nutzen; die Chinesen die Mittel für den Weg nach Amerika, ohne ihn zu gehen. Nicht die ,Mikrochiprevolution‘ hat die neoliberale Globalisierungsideologie hervorgebracht, sondern ein vorhandenes Interesse erkannte in diesem technischen Mittel ein nützliches zur Durchsetzung. Ob die Unterklassen als Landarbeiter, Bauern, Arbeiter oder dienstleistende Angestellte angewandt werden, ändert am System der differentiellen Abstände zwischen den Klassen kaum etwas. Die Entdeckung oder Entwicklung neuer technischer Mittel bedeutet zuerst nur, daß etwas nicht bleiben kann, wie es ist. Dann werden sie in die Reproduktionsstrategien der verschiedenen Klassen eingebaut und damit modifiziert.

5. Die Verfügungmacht über die technischen Mittel ist möglich als juristisch, durch Gesetz abgesicherter Besitz und als symbolische (intellektuelle, kulturelle, politische). Wenn die Verfügung qua Besitz die symbolische dominiert, schließt sich der Raum des Möglichen. Jeder Diskurs wird dann der dominierenden Position subsummiert. Das Interesse z.B. an einem "Ende der Geschichte" oder an dem der "Ideologien" ist das, die eigene Weltsicht und damit die eigene soziale Identität als die einzig legitime durchzusetzen. Für das Handeln der Unterklassen und der kleinbürgerlichen Schichten bleibt dann nur der Konkurrenzkampf um vorgängig definierte Ziele.

6. Denken heißt Überschreiten nur insofern, als die Reduktion des Möglichen auf das bloß Wahrscheinliche einer Verlängerung der etablierten Ordnung, dem System der differentiellen Abstände zwischen den Klassen, aufgebrochen wird. Dafür ist eine systematische Rekonstruktion des Raums des Möglichen notwendig, und eben das wäre eine kritische Utopie. Daß dies nur durch eine Cooperative der Intellektuellen oder Wissenschaftler möglich ist, liegt angesichts des Umfangs der notwendigen Arbeiten auf der Hand.