Dr. Dieter Klumpp

Perspektiven der Wissensgesellschaft

Innovationen und Wandel der Beschäftigungsformen

Dr. Dieter Klumpp
Alcatel SEL Stiftung


1. Einleitung: Von Menschen und Rollen

Es gibt zu Beginn jeder Abhandlung zum heutigen Thema zwei Pflichten zu erfüllen. Die erste ist der Versuch, den Unterschied zwischen Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft zu verdeutlichen, obwohl die Begriffsklärung als solche recht schwierig ist. Seit einigen Jahren verwenden zum Beispiel das BMBF (übrigens auf Wunsch von Jürgen Rüttgers) und andere Institutionen den Begriff Wissensgesellschaft als einer Gesellschaft, die das übergroße Informationsangebot der vorherigen Informationsgesellschaft auch als Wissen zu nutzen versteht. In dieser Nomenklatur müsste man auch den Vorläufer der Informationsgesellschaft als Datengesellschaft bezeichnen und man müßte schon bald aus der Wissensgesellschaft – was nützt schon Wissen im falschen Kontext? – die Kontextgesellschaft kreieren. Danach ginge es immer noch weiter: Ob das Wissen im richtigen Kontext eingesetzt wird, entscheidet jeweils die Gesellschaft. Und dann müßte man in nicht allzu ferner Zukunft von einer "Gesellschafts-Gesellschaft" sprechen; man hätte dann entweder den Gipfel des Pleonasmus erreicht oder man befindet sich in einem Seminar über Niklas Luhmanns Theorie der Gesellschaft. Ich benutze den Begriff als einen vagen, aber durchaus brauchbaren Sammelbegriff für diejenige künftige Gesellschaft, in der sowohl der quantitative Anteil der Informationsverarbeitung und Kommunikation in Produktion und Dienstleistung, aber auch der qualitative Anteil der von den Informations- und Kommunikationsmedien in den gesellschaftlichen, kulturellen und organisatorischen Raum hinein wirkenden Faktoren den entscheidenden Anteil hat. Es hat also nichts zu bedeuten, wenn ich von Informationsgesellschaft statt von Wissensgesellschaft spreche, es sind für mich nur Sammelbegriffe. Die zweite Pflichtübung besteht darin, deutlich zu machen, dass – wie bei jedem gesellschaftlichen Thema – die erste Aufmerksamkeit den Arbeitsplätzen zu gelten hat. Und hier weiß schon jeder Zuhörer vorher, dass es im Saldo qualitative Chancen und quantitative Risiken gibt. Auch weiß jeder, dass man sich über den Saldo prädiskursiv einig sein muß, weil es eben doch keine Alternative gibt.

Das Thema ist nicht neu, die letzte große Diskussionswelle haben wir im Zusammenhang mit dem Lean-Production-Konzept in den Achtzigern erlebt. Dazu ein Zitat aus einem Beitrag, den ich vor sechs Jahren zusammen mit Petra Bonnet unter dem Titel "Arbeiterfreie Hochqualifiziertenunternehmen" publiziert habe: "Mag mancher Akteur die Schlußfolgerung auch noch nicht gezogen haben, die Statistik tut es und die Gewerkschaften wissen es: Ursula Engelen-Kefer (DGB) nennt schon für das zurückliegende Jahrzehnt die Tätigkeitsfelder, in denen eine starke Zunahme (also wohl auch Nachfrage) herrscht: 1. Management; 2. Lehren, Betreuen; 3. Sachbezogene Entscheidungen; 4. Maschinenbedienung und -regelung. Und sie nennt auch die Felder starker Abnahme: 1. Maschinelle Fertigung; 2. Handwerkliche Fertigung; 3. Abteilungsspezifische Bürotätigkeiten; 4. Primärproduktion. Betriebsräte und Aufsichtsräte fallen sich beim Lesen dieser Aufzählung weinend in die Arme. Die einen verlieren Leute, die sie halten wollen, die anderen suchen Leute, die sie haben wollen".

Das Zitat ist schon seltsam: Man kann seit Jahren in grausamer statistischer Exaktheit den Rückgang industriegesellschaftlicher Muster gerade im Bereich der Arbeitswelt – mit Mann und Maus und Wagen – feststellen, während die – ohne Zweifel rasch zunehmenden – informationsgesellschaftlichen Muster bei genauem Hinsehen opak bleiben. Diese kognitive Dissonanz lösen wir zunächst einmal dadurch, dass wir die grausame Statistik gemäß unserer jeweiligen gesellschaftlichen Rolle interpretieren:

Als Unternehmer oder Manager sagen wir, dass wir saisonbereinigt, bei anhaltender guter Konjunktur, günstigen fiskalischen Rahmenbedingungen, freundlichen internationalen Finanzmärkten, positiver Kaufkraftentwicklung, einer noch weiter gehenden Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, einer Gründeroffensive insbesondere im globalisierten Hightech-Bereich und natürlich einer weiteren Verbesserung des Unternehmerbilds in der Öffentlichkeit keine gravierenden strukturellen Anpassungen am Horizont sehen. Ins Verständliche übersetzt, heißen diese Konditionalitäten, also diese "Wenn-Danns": Fürchtet euch nicht, denn wir wissen nichts Genaues.

Als Gewerkschafter sagen wir, dass wir bei einer Ausbalancierung von Personalkosten und Realkaufkraft, bei einer forcierten Fort- und Weiterbildung, mit beschäftigungssichernden Maßnahmen in Sektoren des Strukturwandels, bei Weitergabe des Produktivitätsfortschritts als bezahlte Freizeit und schließlich unter der Bedingung anhaltender solidarischer Kampagnenfähigkeit im Rahmen einer arbeitnehmerfreundlichen Politik Seit an Seit ins 21. Jahrhundert schreiten. Ins Verständliche übersetzt: Es gibt doch tatsächlich immer noch Gewerkschaftsmitglieder.

Als moderne Wirtschaftspolitiker sagen wir, dass wir die Auswirkungen der Globalisierung auf unseren Arbeitsmarkt durch einen Kranz von Maßnahmen – von der Aus- und Weiterbildung über Steuerberechenbarkeit bis hin zu den arbeitsplatzsichernden KMU-Förderungen – im Griff haben, dass die Zahl der arbeitslos Gemeldeten die magische Viermillionengrenze nachhaltig unterschreiten wird und dass wir den Tarifpartnern der freien Wirtschaft niemals-nie-keinesfalls die tarifpolitische Zurückhaltung des öffentlichen Dienstes als Modell empfehlen würden. Ins Verständliche übersetzt, also: Wählt uns.

Als klassische Sozialpolitiker sagen wir, dass angesichts der absehbaren demografischen Entwicklung, des anhaltenden medizinischen Fortschritts, des erkennbaren Rückgangs der Beitragszahlungen für die Rentenkasse, andererseits den ermutigenden Fortschritten der privaten Alterssicherung, sowie einiger unverständlicher Dinge wie Natalität, Mortalität, Rentenformel, Immigration, und Re-Migration keine Deckungsbeitragslücke zu erwarten ist. Ins Verständliche übersetzt: Wählt uns lieber nicht, die Kassen sind leer.

Diese etwas ironisierten Bemerkungen richten sich nicht gegen die Politiker, nicht gegen die Gewerkschaften oder die Unternehmer. Ich an deren Stelle würde auch nichts anderes sagen. Denn die Untergangsszenarien, die man eben auch beschreiben könnte, öden einfach an, den Wähler genau so wie das Mitglied oder den Aktionär.

Den Bonus bekommt man in diesen Gruppen durch Problemlösungsbehauptungen in Hochglanzbroschüren, nicht durch Problembenennungen.

2. Die Experten unter der Geldkuppel – ratlos

Nein, mein Unmut – oder besser gesagt: meine geballte Mutlosigkeit – richtet sich mehr und mehr gegen eine Gruppe von Leuten, die von unserer Gesellschaft dafür ausgebildet wurden und dafür bezahlt werden, Probleme zu identifizieren, wenn nicht sogar zu antizipieren, damit das Prinzip "Gefahr erkannt – Gefahr gebannt" wieder zur Geltung kommen kann. Ich meine die einschlägige Wissenschaft, die sich von Jahr zu Jahr zunehmend hinter riesigen Haufen von empirisch gezählten Erbsen versteckt, eine Wissenschaft, die sich hinter geschlossenen kafkaesken Bürotüren und in piekfeinen fellinischen Konferenzzentren verschanzt, die den Kopf nur aus der Deckung nimmt, wenn eine der genannten gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen bereit ist, sich mithilfe ihres guten Gelds für schlechte Bestätigungen des jeweiligen antizipierten Mainstreams abzocken zu lassen.

Wissenschaftliche Experten haben für mich keinerlei Entschuldigung für die in allen mit mehr oder weniger Befangenheit geschlagenen Gruppen verbreitete Neigung zum Verschweigen von Problemen. Diese nicht befangenen, mithin als – Achtung, Komparativ! – etwas objektiveren Wissenschaftler selbst haben alle denkbaren Entschuldigungen, meist nach dem Muster "wir wissen es zwar besser, aber unser Auftraggeber (Projektgeldgeber, Sponsor, Beirat etc.) würde das nicht wollen. Und selbst wenn er es wollte, würden wir ihm abraten, weil die Presse dann sonst über ihn herfallen würde". Ich halte das für zynisch. Wer etwas zu wissen glaubt und es nicht sagt, dem sollte man das durchgehen lassen, weil Tatarenparolen bekanntlich nichts bringen. Wer etwas aber als "unbefangener" Experte exakt und genau weiß, und dennoch schweigt, dem sollte man wie jedem dahergelaufenen Kurpfuscher die Lizenz entziehen oder wenigstens den Geldhahn zusperren. Es ist gerade auf den gesellschaftlich sensiblen Gebieten wie der qualitativen und quantitativen Arbeitsplatzentwicklung, der Entwicklung unserer kollektiven wie privaten sozialen Sicherheitssysteme, den Auswirkungen von technologischen und organisatorischen Neuerungen auf den Menschen dringend erforderlich, für die durch beauftragte Experten produzierte Wissenschaft die Produzentenhaftung einzuführen. Die gute Kinderstube hindert mich daran, jetzt einigen namentlich ins Jackett zu helfen, die sollen sich das selber anziehen.

Durch die nahezu totale Unfähigkeit des einschlägigen Wissenschafts-Mainstreams, Probleme exakt zu benennen und vielleicht sogar erste Problemlösungsansätze zu skizzieren, wird eine Minderheit von Experten, die sich noch den Luxus eines professionellen Rückgrats leistet, zu einer Art Randgruppe, die man in der Öffentlichkeit dann wunderbar als "kritische Wissenschaftler" beschimpfen oder als "originelle Köpfe" loben kann, was beides auf das Gleiche hinaus läuft: Nur nicht allzu ernst nehmen. Jeder weiß, dass gleich geschaltete Gesellschaftsgruppen zu keiner originellen oder gar innovatorischen Leistung imstande sind. Wir Menschen brauchen zum Denken und Handeln den Antagonismus, wenigstens so lange, bis wir uns alle eine hoch entwickelte Denkhilfe implantieren lassen. Aber bis zu diesem "Schizo-Chip" ist es noch eine Weile hin, wie ich zu wissen glaube.

Sir Robert May, Wissenschaftsberater von Tony Blair wird unter dem Titel "Vertrauen in die Kontroverse", ZEIT Nr. 6 vom 4.2.99 zitiert: "In Großbritannien haben wir Richtlinien herausgegeben, wie man bei der wissenschaftlichen Beratung der Regierung vorgehen soll: Identifiziere Probleme so früh wie möglich; behandle sie mit der größtmöglichen Offenheit; mache die Daten jedem zugänglich; beziehe die besten Leute mit ein; stelle sicher, daß auch Laien beteiligt werden, um ein möglichst breites Spektrum an Meinungen einzuholen. Das klingt alles simpel. Aber vergleichen Sie dies einmal mit der Methode, die Bürokraten und Regierungen normalerweise bevorzugen. Sie rufen eine Expertenrunde zusammen, hören sich deren Meinungen an und präsentieren das Ergebnis dann als Konsens der Öffentlichkeit. So geht es nicht mehr!".

Sir Robert irrt. Ich habe verglichen. So geht es bei uns immer noch. Und noch schlimmer: Die Expertenrunden äußern eben keine eigenen Meinungen, sondern antizipieren am liebsten die des Auftraggebers und – noch präziser – des Budgetgebers: Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.

Ich war Ihnen diesen Exkurs zu den wissenschaftsgestützten Fachleuten schuldig, weil ich ja auch so einer bin, und vor Ihnen weder als Kritiker noch als origineller Kopf erscheinen will, wenn ich – bei aller Befangenheit als Wirtschaftsmann – einige Probleme so früh wie möglich identifiziere. Lothar Schröder (DPG) hat auf der letzten Veranstaltung die Frage aufgeworfen, inwieweit es legitim ist, ein Problem anders als im Doppelpack mit der Lösung zu outen, nach der Veranstaltung hat er mir sie mit "ja" beantwortet.

3. Das Axiom "Berechenbarkeit" in der Wirtschaft

Es ist plausibel, daß die moderne Marktwirtschaft – notabene: das bleibt die Wirtschaftsform auch in einer Informationsgesellschaft – ganz überwiegend dazu tendiert, das Bekannte immer preiswerter auf den Markt zu bringen. In der gesamten Wertschöpfungskette werden niedrigere Preise (als Konkurrenzfolge) mit Kostensenkungen beantwortet oder sie werden durch Kostensenkungen überhaupt (als Rationalisierungsfolge) erst möglich.

Im betriebswirtschaftlichen Ablauf werden nun die einzelnen Kostenarten (Gehälter, Sachkosten etc.) mit zweierlei Maß gemessen: Berechenbare Kosten und schwer berechenbare Kosten. Die Logik der Wirtschaft muß auf Berechenbarkeit zielen. Einfaches Beispiel: Ein Mitarbeiter kann sich jedes Jahr problemlos ein Fachbuch für 200 Mark kaufen, für das gleich teure Jahresabonnement eine Fachzeitschrift braucht er einen Geschäftsleitungsbeschluss. Ein Abonnement ist wegen Kündigungsfristen eben nicht so gut "berechenbar" wie die Einmalzahlung.

Die Grausamkeit dieser – von Max Weber geradezu wie ein Axiom beschriebenen – systeminhärenten Präferenz für Berechenbarkeit trifft mit voller Wucht die Personalkosten. Es ist nachvollziehbar, warum ein Unternehmer lieber teure Überstunden bezahlt, oder warum er lieber Zeitarbeitspersonal einstellt, oder warum er "wegen ein paar Mark Differenz bei den Lohnkosten" lieber an einen Standort mit ausgeprägter "Hire&Fire-Kultur" zieht, statt Stammpersonal für lange 35 Jahre aufzubauen. Diese Regel gilt selbst für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, bei denen nicht die Höhe der Bezüge, sondern ihre berechenbare Volatilität wesentlich ist. Es gibt keine befriedigende Lösung für die "geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse", wenn man nicht das eigentliche Problem der Berechenbarkeit anpackt. Weil die Übernahme des Hire&Fire-Modells nicht ernsthaft akzeptabel ist, sind völlig neue Ansätze zu prüfen. Doch wer tut das? Die "befangenen" Experten? Zu prüfen wäre zum Beispiel ein neuartiges Versicherungsmodell für Arbeitgeber, das Pendant zur Arbeitslosenversicherung, um der Tendenz zu volatilen Beschäftigungsmodellen zu begegnen.

4. Der Schlüsselfaktor Bildung

Noch dramatischer sind die geschilderten Unberechenbarkeiten im Bereich der qualifizierten Arbeit. Jeder Zeitungsleser ist nach zwei Jahrzehnten Konsum von unreflektiertem Gewäsch fest überzeugt, daß gerade bei den neuen Berufen wie etwa den Informatikern das Wissen in wenigen Jahren komplett veraltet. Auch Unternehmer lesen Zeitung. Ein Unternehmer, der sich schon schwertut, einen Pförtner für 35 Jahre einzustellen und lieber auf Outsourcing vertraut, sitzt einem jungen Informatiker bei einem Einstellungsgespräch recht unschlüssig gegenüber, wird dieser doch angeblich "absehbar in fünf Jahren zum unwissenden Versorgungsfall" (dementia informaticae?). Trotz aller Behauptungen und fester Überzeugungen zur "Schnelligkeit des Wandels (Internetjahre)" gibt es keine Fälle von solcher Technologiedemenz. Ein in den letzten fünf Ausbildungsgenerationen profund ausgebildeter Informatiker hat mit angemessenen permanenten Fortbildungskosten keinerlei Probleme mit den neuen Softwaretechnologien, er hat höchstens Probleme mit den historischen Technologien, wie man bei der Y2K-Problematik bemerkt hat.

Auch qualifizierte Büroberufe auf Sekretariats- und Sachbearbeitungsebene betrifft bei sachgemäßer Grundausbildung die überall verbreitete Furcht vor wandelnden Wissensruinen wegen mangelnder PC-Kenntnisse nicht. In Stellenangeboten von Mittelständlern und Großen gleichermaßen finden sich heute noch angsteinflößende (und vice versa angsterfüllte) Anforderungen wie die Aufzählung aller Einzelpakete von Microsoft-Office-Programmen. Dabei gilt: Gut ausgebildete Mitarbeiter steigen problemlos in einer Woche vom Corel-Office-Programm auf das Microsoft-Programm um und umgekehrt, selbst Macintosh-Nutzer können das (wollen es aber aus anderen Gründen nicht). Hier taucht eine neue Unsicherheit auf: Ausgerechnet im – gerade im Bildungsbereich – hochregulierten Deutschland gibt es, anders als in den Nachbarländern, keinerlei Vergleichsmaßstab dafür, was eigentlich ein "gut für PC-Anwendungen ausgebildeter" Mitarbeiter ist. Mitarbeiter, die den PC als eine Art moderne Schreibmaschine (mit unbegrenztem digitalen Papierkorb und intelligentem Tippex namens Rechtschreibprüfung) benutzen, sitzen neben Mitarbeitern, für die das gesamte Büroleben nur und ausschließlich aus der allerneuesten PC-Hardware und –Software und deren Anwendungen zu bestehen hat, die der eigentlichen Büroarbeit eher wenig Bedeutung beimessen. In beiden Bewerbungspapieren steht aber: gute PC-Kenntnisse.

In Europa hat man sich seit Jahren auf einen "Europäischen Computerführerschein" als einen möglichen Maßstab geeinigt. Der Führerschein bietet jedem Computernutzer in Form eines europaweit anerkannten Zertifikats einen Fertigkeitsnachweis im Umgang mit Computern, der bei beruflichem Fortkommen oder bei der Arbeitsplatzsuche eingesetzt werden kann. In der Europaliga der Skill Cards führen Schweden mit 263.846, Dänemark mit 109.519 und Irland mit 52.837. Deutschland liegt mit 18.645 abgelegten Prüfungen für den ECDL auf dem siebten Platz. PC-Kenntnisse oder generell "computer literacy" sind ohne Zweifel der zentrale Bildungsbestandteil der Informationsgesellschaft. Schweden wird dies mit ein paar Hunderttausend Menschen, die mit der Netzwelt gut zurecht kommen, und schätzungsweise zehnmal so vielen, die halbwegs als "User" damit zurecht kommen, schon sehr bald unter Beweis stellen. In Schweden und ganz Skandinavien wird man sicherlich nicht dem "Digital Divide" zum Opfer fallen. Andere Länder werden sich fragen müssen, ob sie nach Tausenden von ausländischen IT-Experten nicht auch noch ein paar Millionen kundige Netzuser auswärts anwerben sollten.

An diesem Beispiel kann ich noch einmal das Dilemma der "befangenen" Experten verdeutlichen. Wenn wir im Rahmen der Brancheninitiative D21 die Idee propagieren würden, dass "unvorhergesehene Mehreinnahmen des Staates" zum Beispiel sehr dringend in die Bildung für die Informationsgesellschaft gesteckt werden, würde das im Publikum eben als typisches Marketing einer Branche angesehen werden ("die wollen nur ihre PC's loswerden") und damit die eigentlich "objektiv notwendige" Panik samt anschließendem Aktionsprogramm unmöglich machen. Hier wäre ein "unbefangenes" Expertenwort angebracht, doch die Expertise bleibt aus. Ich persönlich meine, dass man bei der Bezahlung von Schulden der Industriegesellschaft ein eventuelles Budget ausschließlich für Innovationsfähigkeit und nicht für Strukturerhaltung einsetzen sollte. Wer heute meint, dass unser Standort schon noch Zeit haben wird mit dem Innovations-Ruck, der baut eine Verschuldung für die Zukunft auf, gegen die sich unsere Altschulden wie ein überzogenes Girokonto ausnehmen.

5. Zukunft aus Qualifikation und Produktivitätsfortschritt

Computer Literacy ist für die Informationsgesellschaft notwendig, aber nicht hinreichend. Nico Stehr hat vollkommen zu recht darauf hingewiesen, dass wir die Produktivitätssprünge der letzten 20 Jahre nicht primär den IT-Maschinen verdanken. Deswegen haben wir auch nicht das in den siebziger Jahren prognostizierte "papierlose Büro" bekommen. Die wesentlichen Änderungen im Bürobereich sind verbesserte Workflows und eine Absenkung der Performanzqualität: Wir sind in den Büros in den letzten 20 Jahren schneller und schlechter geworden, weil dies der Wettbewerb erzwungen hat. Die Bürohilfskräfte existieren schon nicht mehr, sie wurden durch firmeninterne Dienstleister ersetzt. Die nächste Welle wird die Sekretariats- und Sachbearbeitungsebene treffen – genau wie dies im Zitat von Engelen-Kefer deutlich wurde: Die konstante Abnahme "abteilungsspezifischer Bürotätigkeiten" ist eine in der Praxis vorfindliche Realität. In der Konsequenz birgt dies die Tendenz zu höherer Flexibilität und Qualifikation. Ist der Fabrikarbeiter der Zukunft tendenziell ein Diplomierter, der sich nicht scheut, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen, so ist die Sekretariatskraft der Zukunft ein Diplomierter, der sich nicht scheut, ab und an einen Brief zu tippen und Kaffee zu kochen, es ist eine veritable Assistenzkraft oder eine höherqualifizierte Sachbearbeitungsfunktion ohne Zeiterfassungskarte. Die e-Mail, das lesen wir immer, "verflacht die Hierarchien". In Wirklichkeit tröstet das e-Mailen über den Wegfall von Zuarbeitsebenen hinweg.

Das ist das Schöne an den neuen IT-gestützten Beschäftigungsformen: Sie sind immer als "ganzheitliche und damit prinzipiell beglückende" Arbeit darstellbar. Das Musterbeispiel dafür ist die Telearbeit. Im Gedankengang der notwendigen Berechenbarkeit, der Höherqualifizierung und nicht zuletzt der Flexibilisierung kann man die Telearbeit der ersten und der zweiten Generation unterscheiden. Die erste Generation von Telearbeit ist gekennzeichnet von einer überbordenden Freiwilligkeit, für die gestandene Arbeitgeber nur das Wort "Selbstverwirklichung" und gestandene Gewerkschafter nur das Wort "Selbstausbeutung" haben.

Telearbeit ist noch kein Massenphänomen, sondern beschränkt sich auf die Anbindung von außertariflichen Spezialisten sowie die wachsende Zahl an Netztagelöhnern oder Angestellten in Nachbarschaftsbüros mit billigen Mieten. Telearbeit ist alltagsweltlich im Prinzip (außer im Ergebnis) unkontrollierbare Arbeit, weswegen es bei Telearbeit folgende Errungenschaften nicht mehr gibt: Bezahlte (oder abzugeltende) Überstunden, Versicherung gegen Arbeitsunfälle, Bezuschussung gemeinsamer Mittagspausen, bezahlten Urlaub, Mutterschutz, Betreuung durch Betriebsmedizin, Ergonomie am Arbeitsplatz, steuerliche Kilometerpauschalen, kurz: Telearbeit muß geringere Overheadkosten aufweisen, um gegen die Büroarbeit bestehen zu können. Und das geht momentan in erster Linie nur mit Erhöhung der individuellen Arbeitszeit und der zeitlichen Beschränkung des Arbeitsvertrags. Die vielen Forscher haben unter den wenigen Telearbeitern im Lande alles gefunden, außer dem Typus, der mehr Arbeit vortäuscht als leistet, es gibt keinen Telefaulenzer. Alle untersuchten Telearbeiter sind Telemehrarbeiter und zugleich hinsichtlich dem hochmotivierten Qualitätsstreben den Bürokollegen überlegen. Diese Tatsache ist im Arbeitgeberlager noch nicht in der Breite bekannt, es spricht sich aber herum.

Bekannt sind die Hemmnisse, die vor der zweiten großen Welle der Telearbeit, nämlich der aus Kostengründen eingeführten, nicht mehr ganz so freiwilligen Telearbeit, stehen. Daß Teleworker Coaching brauchen, wie dies zum Beispiel die "Anwenderplattform Telearbeit" Baden-Württemberg fordert, ist noch untertrieben. Sie brauchen eine teure Schulung, von der PC-Kompetenz bis zur persönlichen Arbeitsorganisation. Außerdem bestehen die Arbeitnehmervertretungen, die Sicherheitsbeauftragten (gemeint ist primär mechanische und elektrische Sicherheit, bald aber auch die Datensicherheit), die Versicherungsgeber des Betriebs und sogar schon die Arbeitsmediziner auf einer Inspektion bzw. auf inspektionssicheren Vereinbarungen. Dies alles ist schlichtweg nicht finanzierbar. Wahrscheinlich ist das nicht einmal verhandelbar, auch wenn existierende Tarifverträge eine vorhandene Lösung suggerieren. Die Telearbeit wird sich deshalb vor der zweiten Welle zunächst eine völlig neue Form der Arbeitnehmervertretung schaffen, die klassische Arbeitnehmervertretung wird diesen Wandel mitmachen oder untergehen.

Um nun zu verhindern, daß Telearbeiter nichts anderes sind als billigere Büroarbeiter, bleibt nichts anderes übrig, als praktisch alle qualifizierten Arbeitnehmer mithilfe eines sehr anspruchsvollen Kompetenzaufbauplans, wie wir ihn in den letzten drei Jahren unter "Qualifikation ans Netz – QAN" diskutieren, zu partiellen Telearbeitern zu machen und so die Arbeitskosten insgesamt, wenn schon nicht zu verbilligen, so doch berechenbarer zu machen.

Als "befangener" Experte habe ich jetzt hoffentlich reichlich Punkte für unsere anschließende Diskussion vorgetragen und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Stuttgart, 24.5.2000