Welf Schröter

Enttäuschungen als notwendig öffentliches Thema

Neue Infrastrukturen der Arbeit in der Informationsgesellschaft
Prolog und Sieben Thesen

"Philosophie trifft Arbeitswelt – Arbeitswelt trifft Philosophie". Dies ist das Motto einer gleichnamigen Initiative, zu der sich Personen aus Gewerkschaften, der Technikforschung, der Wirtschaft und der "Bloch-Community" zusammengefunden haben. Wir wollen einer alten Frage neu nachgehen: Wie können wir nach vorne gerichtete Orientierungen in einem dynamischen strukturellen Umbruch der Arbeitswelt und der Ökonomie finden? Was kann die Philosophie – und hier insbesondere die Positionen Ernst Blochs und Karola Blochs – dazu beitragen? Was bedeutet die "Invariante der Richtung" (Bloch) heute? Wie müsste sich eine philosophische Diskussion öffnen, um sich auf die Aktualität der veränderten Arbeits- und Technikwelt einlassen zu können?

Ungleichzeitigkeiten

In seinem Werk 'Erbschaft dieser Zeit' schreibt Ernst Bloch: "Nicht alle sind im selben Jetzt da, sie sind es nur äußerlich dadurch, dass sie heute zu sehen sind, dadurch aber leben sie nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nach dem wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach. Leicht geht oder träumt es sich in ältere zurück. Gewiss ein bloß ungelenker Mann, der eben deshalb hinter den Ansprüchen seines Postens oder Pöstchens zurückbleibt, ist einfach als er selber zurückgeblieben. Doch wie, wenn er außerdem durch nachwirkende altbäuerliche Herkunft etwa als Typ von früher in einen sehr modernen Betrieb nicht passt. Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht."

Diese Sätze sind fast 70 Jahre alt. Auch wenn diese Passage in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gegen den Nationalsozialismus geschrieben wurde, spiegelt sie doch als analytisch-methodisches Handwerkszeug eine hohe Aktualität. Bloch suchte mit dem Begriff der "Ungleichzeitigkeit" Erklärungen zu ermöglichen, wie es kommen konnte, dass so viele Menschen rückwärtsgewandt wählten. Sie sehnten sich nach Ordnung und Übersichtlichkeit, nach rückwirkender Ordnung. Sie wollten kurzfristige vermeintliche Einfachheit und Klarheit, einen Weg aus der Unübersichtlichkeit der Folgen der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre.

Die heutige Unübersichtlichkeit entsteht auf einem anderen Feld. Auch dort keimen untergründig Wünsche und Sehnsüchte nach alter Geordnetheit, nach Klarheit der Konfliktlinien zwischen Gut und Böse. Auch sie erweisen sich bei genauerem Hinsehen oftmals als rückwärtsgewandt. Die neue "Unordnung" vollzieht sich in der Arbeitswelt, im Verlust der Berechenbarkeit des Arbeitsplatzes und – noch viel entscheidender – im Verlust der Berechenbarkeiten der Arbeitsverhältnisse. Die alte Arbeitsverfassung nimmt an Einfluss und Bedeutung ab. Die "neuen Infrastrukturen der Arbeit" haben noch keine manifesten Konturen, nur Trends, starke Trends. Dieser tiefgreifende Umbruch muss uns interessieren.

Wandel des Arbeitsbegriffes

Ernst Blochs Philosophie fußt auf einem – aus meiner Sicht – alten Arbeitsbegriff, der auf Karl Marx zurückgeht und das klassische Bild von Lohnarbeit zu Grunde legt. Diese war ein Lohnarbeitsmodell, das unbefristete Normalarbeitsverhältnisse als Orientierungsnorm betrachtete. Davon ist die Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates in unserem Land bestimmt. Das Normalarbeitsverhältnis ist Richtschnur der Verhandlungen der Sozialpartner. Wer über die Zukunft der Arbeit spricht und in diesem Zusammenhang sagt, "wir wollen wieder Vollbeschäftigung erreichen", hat im Hinterkopf, dass er allen Menschen die Möglichkeit zum Eintritt in ein unbefristetes Normalarbeitsverhältnisses verschaffen will. Dies ist sozialpolitisch mit Sicherheit ein integres Motiv. Die herausfordernde Frage bleibt, ob es aufgrund der dramatischen Veränderungen des Arbeitsmarktes, der Umstrukturierungen der Produktion, des flächendeckenden Einsatzes von IT-Technologie überhaupt noch eine Vollbeschäftigung alten Typs geben kann. Wir geraten in einen doppelten technologisch bedingten Prozess der Rationalisierung hinein. Einerseits bewirken neue Technologien Rationalisierung in den alten, tradierten Arbeitsbereichen. Die Zahl der Arbeitsplätze nimmt durch Technikeinsatz in der Quantität ab. Gleichzeitig bringt die Nutzung der neuen Technologien qualitative Rationalisierungen hervor. Qualitativ heißt hierbei: Die Organisation, die Struktur der Arbeitsverhältnisse verändern sich.

Eine meiner Kernthesen lautet: Wir haben es heute nicht nur mit einer Veränderung der Arbeitsform zu tun. Der Wandel der Arbeitsform würde den Wandel innerhalb der Verfasstheit des Normalarbeitsverhältnisses betreffen, etwa die Dauer der Arbeit, die Zahl der Stunden, an welchen Wochentagen gearbeitet wird. Ebenso berührt er die Frage, wie viel eigene Zeitsouveränität, wie viel Teilzeitarbeit denkbar ist. Meine These reicht weiter: Ich gehe davon aus, dass wir es mit einer Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses zu tun haben. Die Anzahl dieser klassischen Normalarbeitsverhältnisse wird mehr und mehr zurückgehen. Sie werden nicht verschwinden, sie werden einen großen Teil der Wirtschaft nach wie vor bestimmen, sie werden aber zahlenmäßig an Bedeutung einbüßen. Das Normalarbeitsverhältnis wird die Arbeitskultur nicht mehr allein und dominant prägen.

Sehr viele Analysen und Fachdiskussionen gehen im Moment davon aus, dass auf Dauer die freie oder selbstständige Arbeit ansteigt. Selbstständig heißt, dass die Personen kein Dauernormalarbeitsverhältnis mehr besitzen. Es heißt weiter, dass die klassischen beruflichen Biografien – ein Mensch, eine Ausbildung, ein Beruf, eine Rente –, dass dieses Muster in Zukunft nicht mehr für alle gelten wird. Wir werden mehr und mehr Personen mit einer Art Patchwork-Biografie erleben. Sie wechseln oder werden wechseln müssen zwischen einer Zeit der abhängigen Beschäftigung, einer Phase der Nichterwerbszeit – freiwillig oder unfreiwillig, entweder entlassen oder auf Grund eigener Entscheidung –, einer Zeit der Selbstständigkeit, einer Zeit der Weiterbildung, einer neuen eventuell befristeten Phase abhängiger Beschäftigung. Wer mit 60 oder 65 Jahren zurückblickt, wird feststellen, dass sie oder er nicht eine einzige Berufstätigkeit hatte sondern vielleicht fünf oder sieben oder elf. Einer der entscheidenden Punkte dabei ist das persönliche "Changemanagement", die individuelle Fähigkeit zwischen diesen Erwerbsphasen erfolgreich wechseln zu können.

Angenommen die Grundthese wäre richtig, dass wir in einem Zeitraum von 10 minus x Jahren in eine gesellschaftliche Realität hineinkommen, die grob gesagt 60 % Normalarbeitsverhältnisse und 40 % neue Selbstständigkeiten in der Erwerbswelt aufweist, dann bedeutet dies, dass z.B. die Sozialpartner "nur noch" für 60 % der Erwerbsarbeitswelt zuständig sind. Wer organisiert die anderen 40 %? Was bedeutet dies sozialpolitisch? Wer repräsentiert diese 40 % gesellschafts- und demokratiepolitisch? In welche Richtung müsste dann die sozialstaatliche Diskussion gehen?

Virtualität und Identität

Begleitend zu dieser Grundthese müssen wir uns mit einer zweiten Dynamik konfrontieren: Die Art und Weise, wie produziert und gearbeitet wird, ändert sich gravierend. Wir haben es mit einer Tendenz zur immateriellen Arbeit zu tun. Der alte Arbeitsbegriff ging davon aus, dass der Mensch etwas bearbeitet, Handwerkszeuge in die Hand nimmt, das Produkt anfassbar ist, physisch, haptisch greifbar ist, dass die Art und Weise, wie jemand sein eigenes Ich, seine eigene Identität aufbaut, der materiellen Vergegenständlichung folgt. Das Produkt, das Fahrzeug, die Torte, das Brot, der Schrank sind konkrete Gegenstände. Man kann sie anfassen, riechen, anschauen und kann darauf stolz sein. Das Selbstwertgefühl wächst geradezu im haptischen Vorgang.

Wenn aber nun dieser Arbeitsprozess sich dahingehend verändert, dass die immateriellen Teile der Arbeit zunehmen, stellt sich die Frage, inwieweit es möglich ist, persönliche Identität auf der Basis flüchtiger Arbeitswelten zu schaffen. Flüchtig in dem Sinne, dass wir es mit Arbeitsprozessen zu tun haben, die in einer virtuellen Arbeitswelt stattfinden, in einem virtuellen Prozess von Produktion und Dienstleistung. Diese Dematerialisierung der Arbeitsinhalte nimmt zu. Das bedeutet nicht, dass das Brötchen aus der Bäckerei oder dass das Fahrzeug aus der KFZ-Branche nicht zum Schluss materiell hergestellt werden muss. Aber der Weg zu diesem Produkt ändert sich, und der Weg weist deutlich höhere Anteile immaterieller Arbeit (modulare Virtualität) auf.

Immaterielle Arbeit als virtueller Prozess ist nicht an Orte und nicht an Zeiten gebunden. Wenn Arbeit weniger an Orte und Zeiten gebunden ist, bedeutet das zugleich auch, dass die Gleichzeitigkeit des Erlebens drastisch abnimmt. In den klassischen Betrieben war eines ganz typisch: Menschen kamen zur selben Uhrzeit morgens in den Betrieb und gingen am Spätnachmittag zur selben Uhrzeit. Sie haben sich dort gemeinsam eingefunden, sich gemeinsam zur selben Stechuhr aufgemacht, haben sich gemeinsam über diese geärgert und versucht sie zu überlisten, haben dieselben Alltagserfahrungen gesammelt, denselben Kaktus nicht gegossen, dieselben Fenster geöffnet, sich gemeinsam über denselben Chef aufgeregt, eine gemeinsame Kundgebung oder einen gemeinsamen Streik durchgeführt. Dieses solidarische gleichzeitige Empfinden von Arbeitsumgebungen ist etwas, was in dem Maße wie diese Form der materiellen Produktion strategisch an Bedeutung verliert, ebenfalls abnimmt. D.h. immaterielles Arbeiten bedeutet auch ungleichzeitiges Erleben von Arbeit und ungleichzeitiges Erleben von solidarischen Prinzipien.

Entfremdung und Kommunikation

Bloch, Marx und Agnes Heller identifizierten schon in der abhängigen Lohnarbeit das Auffächern der Entfremdung. Was aber geschieht mit der Entfremdung bei immateriellen asynchronen, zeitversetzten Arbeiten? Ändert sich die Art und Weise, wie ich mich mit Arbeit, mit dem Produkt, mit Arbeitszusammenhängen identifizieren kann, wie präsent ist mein eigenes Ich in dieser neuen Arbeitswelt?

Immaterielles Arbeiten löst auf der einen Seite eine neue Qualität von Entfremdung aus. Gleichzeitig schafft sie aber auch – und das ist aus meiner Sicht ein ganz wesentlicher Punkt – die Voraussetzungen für einen ganz neuen Weg und Stil der Kommunikation, der Kommunikationsarbeit. Wer über das Netz arbeitet, seine Arbeit auf der Basis von Computern und virtuellen Zusammenhängen organisiert, kommuniziert sehr viel mehr und anders als in der alten, traditionellen Arbeitsorganisation, wo jeder seinen abgezirkelten Arbeitsplatz hatte, seine genauen Handgriffe und wo möglicherweise die Pause ein "Hallo" oder "Grüß Gott" bestimmte. Ergänzt wurden diese Pausenkommunikationen um private Inhalte, um Freizeiterlebnisse, Familiäres oder um leidenschaftliche Fußballdebatten.

In virtuellen Arbeitsprozessen ist Kommunikation mehrheitlich Teil der Arbeit, es ist berufliche Kommunikationsarbeit, d.h. ein wesentlicher Faktor neuer Verkehrsformen der Menschen untereinander ist plötzlich programmatisch, inhaltlich Teil dieser Virtualisierung, dieser immateriellen Arbeitsvorgänge. Darin liegen Chancen. Chancen in dem Sinne, dass Menschen diese Kommunikationsform erlernen, sich auf dieses neue Kommunizieren einlassen und vielleicht auch eine neue Kommunikativität für sich erwerben und erleben. Virtualisierung ist keine Einbahnstraße. Sie ist auf der einen Seite eine erkennbare Entwicklung im Bereich neuer Typen von Entfremdung und ungleichzeitigen Arbeitserlebens, zugleich aber auch eine neue Chance für kommunikative Nähe und Subjektivität. Meines Erachtens führt Virtualität nicht linear zur Vereinsamung sondern eher zu einem Kommunikationsüberangebot und zu der Anforderung, unterscheiden und auswählen, bewerten zu können.

Eine solche Kommunikativität ist eine Chance und sollte für die Diskussion über die Zukunft der Arbeit ein wesentlicher Gestaltungseckpunkt sein. Möglicherweise ist der Faktor Kommunikation der Hebel zur Gegenbewegung gegen eine erweiterte Entfremdung im Marxschen Sinne.

Entkoppelung von Arbeit und Einkommen

Ein Leitmotiv Karola Blochs war der Satz von der "Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden". Sie fasste ihn auch sozialpolitisch: "Wenn die Technisierung fortschreitet, wird es immer notwendiger werden, für die Menschen Beschäftigung zu finden. Das wirkt sich auf die gesamte Industrie aus und vergrößert das Problem der Arbeitslosigkeit. Es wird mit der Zeit eine ganz andere Ökonomie kommen müssen. Wenn die Menschen eigentlich nicht mehr soviel arbeiten, aber von irgendetwas leben müssen, brauchen sie eine Bezahlung, ein notwendiges Substrat, um existieren zu können. Unsere Gesellschaft hat sich wahnsinnig verändert und wandelt sich noch. Bis jetzt hat der Einzelne einen Lohn bekommen in der Höhe, die seiner geleisteten Arbeit entsprach. Wenn nun aber die Arbeit wegfällt, muss er dennoch einen Lohn bekommen, um leben zu können. Das ist eine ganz andere Vorstellung, eine andere Ökonomie. Der Begriff der Arbeit als solcher wird sich ändern. Auch die Zukunft der Gewerkschaften wird anders sein, als man sich das heute vorstellt."

Für Karola Bloch war die materielle Arbeit Grundlage der Identitätsbildung des Menschen. Wenn nun die Arbeitsform und die Arbeitverhältnisse sich quantitativ und qualitativ ändern, wenn die Anzahl der Normalarbeitsplätze im Verhältnis 60:40 zurückgeht, stehen wir vor der Frage – die sich aus meiner Sicht aufgrund der technologischen Entwicklung immer stärker aufdrängt –, ob nicht eine Entkoppelung von Einkommen und Arbeit erforderlich oder gar unausweichlich ist. Es wird auf Dauer mehr und mehr Menschen geben, die nicht mehr Teil der Arbeitswelt sind und dort auch keinen Zugang mehr finden.

Wenn die Anzahl der Arbeit, der Normalarbeitsverhältnisse, objektiv abnimmt und durch Rationalisierung quantitativ noch einmal reduziert wird, dann wird es auf Dauer sehr viel mehr Menschen geben, die nicht oder nicht mehr Teil des Arbeitsmarktes sind. Das bedeutet auch, dass die sozialen Sicherungssysteme nach dem alten Prinzip nicht funktionieren, nicht mehr funktionieren können. Die Frage ist, ob die Entkoppelung von Arbeit und Einkommen ein sozial komplementärer Ansatz zur Zunahme immaterieller Arbeitsprozesse sein muss. Wenn dem aber so ist, dann müssen wir in dieser Gesellschaft das Thema soziale Sicherungssysteme, Sozialversicherung, Krankenversicherung und ähnliches anders diskutieren, dann darf diese Debatte nicht losgelöst von der Gestaltung immaterieller Arbeit geführt werden. Wir müssen zu einer ganzheitlichen Betrachtung kommen und dieses Thema als möglichen notwendigen Teil eines Übergangsprozesses in eine Informations- und Wissensgesellschaft begreifen und auch so handhaben. Ich würde es noch zuspitzen: Aus meiner Sicht ist das Thema "Entkoppelung von Arbeit und Einkommen" ein zwingendes Element des Übergangs in die Informations- und Wissensgesellschaft.

Enttäuschungen und ihre Reflektierbarkeit

Die Zahl der Menschen steigt, die mit dem Erleben der Chancen im Arbeitsleben unzufrieden sind. Die Zahl der jungen Menschen nimmt zu, die keinen Zugang zur Arbeitswelt der Informationsgesellschaft finden. Sie sehen und fühlen sich ausgeschlossen. Daneben gibt es Menschen, die seit dreißig Jahren in einem Großunternehmen tätig waren, die stolz auf ihrer Hände Arbeit sind und plötzlich mit der drohenden Abwertung ihrer Lebensleistung konfrontiert werden, weil sie keine ausreichenden Fähigkeiten mitbringen, in immateriellen Prozessen mitwirken zu können. Da gibt es Menschen mit geringerer Ausbildung, Erwerbslose, Menschen aus ländlichen Regionen mit landwirtschaftlichen Kulturen, ältere Berufstätige, Menschen aus anderen Lebenswelten, Immigranten, Menschen mit abgeschlossener Lehre ohne Job, arbeitslose Akademiker – sie alle machen sich Hoffnung auf die Arbeitswelt von morgen, auf Teilhabe, auf Zugänglichkeit, auf Partizipation. Was geschieht mit diesen Menschen, wenn sie den Einstieg in E-Working, E-Business, E-Commerce, E-Government, E-Learning, E-Procurement, E-Lancing nicht schaffen? – Angesichts der erkennbaren strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt lässt sich schon jetzt voraussagen, dass für viele die Enttäuschung vorprogrammiert ist. Sie werden den Platz in der Erwerbswelt nicht einnehmen können, den sie sich wünschen, wenn nicht in gesellschaftlicher Weise korrigierend interveniert wird. Sie sind auf die neue Welt der Arbeit kaum vorbereitet. Und sie werden ihr Scheitern als individuelle, ganz persönliche Niederlage empfinden, als eigenes Versagen.

Unsere Diskussion sollte dazu beitragen deutlich zu machen, dass wir es hier nicht mit privaten Problemen zu tun haben. Die Barrieren beim Zugang zu den virtuellen immateriellen Wertschöpfungszusammenhängen sind objektiv vorhanden. Diese Enttäuschungen müssen ein öffentliches Thema sein. Nicht der Rückzug in die eigenen vier Wände sondern die öffentliche Erörterung des Kerns der Problematik ist gefordert. Dies ist nicht nur eine soziale und moralische Verpflichtung sondern politisch unabdingbar. Denn in der Individualisierung des Umgangs mit der Enttäuschung besteht die Gefahr der Rückwärtswendung1. Dass man sich orientiert an den "guten alten Zeiten", als alles noch "ordentlich" war und man wusste, wer der Chef und wo der Betriebsrat ist, an den Zeiten, wo die Arbeitswelt noch geregelter erschien. Sie hatte zwar auch ihre Schwächen, aber man hatte das Gefühl man überblickt, wer mit wem hier was aushandelt. – Vor allem hatte man dort seinen angestammten Platz. Man war in der alten Ordnung zuhause.

In Situationen einer schnellen Veränderung, der Unübersichtlichkeit der Wandels und der direkten Betroffenheit wächst erneut das Bedürfnis nach Geordnetheit, nach übersichtlicher Geborgenheit, nach der Haltung, wieder Ordnung für sich und andere schaffen zu wollen. Wenn die Orientierung nicht in der Gegenwart gefunden wird, steigt das Bedürfnis, Hoffnungen auf die Vergangenheit zu projizieren und alte Muster wieder hervorzuholen.

Es dürfte ein ganz wichtiger Teil dieses Diskurses über die Zukunft der Arbeit sein, darüber nachzudenken, welche Bedeutung das öffentliche Verarbeiten von als persönlich empfundenen Niederlagen und persönlicher Enttäuschung hat. Wir sollten Bedingungen schaffen, gesellschaftlich bedingte Enttäuschungen auch gesellschaftlich zu reflektieren. Dabei geht es zugleich um das Kommunizieren gemeinsamer gesellschaftlicher Tagträume.

Arbeit ist nicht nur Job oder Lohnarbeit, sondern bestimmt einen zentralen Veränderungsprozess dieser Gesellschaft. Wenn dieser Veränderungsprozess im Kontext des Übergangs zur Wissens- und Informationsgesellschaft näher zu betrachten ist und wir dies nicht nur auf die Berufswelt der 80er Jahre, die weitgehend noch eine klassische Industriegesellschaft war, beziehen, sind wir mit dem Blochschen "Ungleichzeitigkeitsbegriff", mitten in der Modernisierungskontroverse angekommen. Die Initiative "Philosophie trifft Arbeitswelt – Arbeitswelt trifft Philosophie" hat hier eine öffentliche Aufgabe und einen öffentlichen Ort.

Soziologie immaterieller Arbeit und Subjekt

Tonio Negri und andere sprechen davon, dass wir dringend eine neue Soziologie der immateriellen Arbeit benötigen. Bisher orientierten wir uns vor allem an einer Soziologie der Industriearbeit. Eine Soziologie der immateriellen Arbeit würde aber eine Reihe der Faktoren und Instrumente verändern, mit denen wir bisher tätig waren und würde mit Sicherheit auch andere Subjekte des gesellschaftlichen Handelns identifizieren. Da sind wir wieder mittendrin bei Bloch. Für Bloch gab es traditionell "das" Subjekt, das Subjekt war die Arbeiterschaft. Wir werden aber in Zukunft nicht mehr ein einziges orientierendes, dominantes, kollektives Subjekt vorfinden sondern mehrere. Das Ringen um Nachhaltigkeit wird zum Beispiel plurale "ökologisch-politische Subjekte" hervorbringen. Die Frage ist, wie diese Subjekte zu sich finden und wie sie im Prinzip der Ungleichzeitigkeit entstehen und ihre Erfahrungen verarbeiten. Ich gehe davon aus, dass Gewerkschaften in Zukunft nicht mehr das alleinige Subjekt der Gestaltung der Berufs- und Arbeitswelt sein werden, dass es andere gesellschaftliche Subjekte geben wird – Netzwerke, Arbeitszusammenhänge –, die wir hier mit in diesen Veränderungsprozess einbeziehen müssen. Das bedeutet für beide Seiten, dass sie lernen müssen, dieses Thema als ein gemeinsames gesellschaftliches zu akzeptieren. Denn: Wir gehen nicht auf ein Ende der Arbeitsgesellschaft zu, sondern auf einen anderen Typ der dezentralisierten, partikularisierten Erwerbsgesellschaft, die ihre errungenen sozialen Rechte und Standards in einem schwierigen Prozess in eine neue Verfasstheit transformieren muss.

Aktualität

Der Begriff der Ungleichzeitigkeit, wie ihn Bloch benutzte, ist in diesem Kontext methodisch sehr hilfreich, weil er darauf eingeht, wie Erfahrungen, Hoffnungen, Enttäuschungen von Menschen sich zueinander verhalten. Ungleichzeitigkeit in diesem Kontext ist ein Schlüsselbegriff und sollte die Arbeitsweltdiskussion verstärkt begleiten. Bloch ist hochaktuell.

Um diese Aktualität im Sinne der Anstrengung des Begriffes zu thematisieren, schlage ich der Initiative "Philosophie trifft Arbeitswelt – Arbeitswelt trifft Philosophie"2 nachfolgende sieben Thesen als Basis eines offenen Diskurses vor.

Sieben Thesen


1 Damit soll keineswegs einer neuen faschistischen Gefahr das Wort geredet werden. Es stimmt aber bedenklich, wenn in Europa viele Bürgerinnen und Bürger angesichts eines realen oder empfundenen sozialen Heimatverlustes ihre neue Geborgenheit bei rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Parteien suchen.

2 Die Mitgliederversammlung der Ernst-Bloch-Gesellschaft fasste am 9. Juni 2002 folgenden einstimmigen Beschluss zur Initiative "Philosophie trifft Arbeitswelt – Arbeitswelt trifft Philosophie": "Die Mitgliederversammlung der Ernst-Bloch-Gesellschaft begrüßt und unterstützt die Initiative 'Philosophie trifft Arbeitswelt – Arbeitswelt trifft Philosophie'. Ziel der Initiative ist es, einen kritischen Dialog zwischen Wissenschaft, Gewerkschaft, Wirtschaft, Forschung, Politik und Kultur über den Wandel der Arbeit auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft anzustoßen. Dabei sollen insbesondere Prozesse der Ungleichzeitigkeit der Arbeitskulturen betrachtet und die Ausgestaltung konkreter Utopien der Arbeit befördert werden. Im Zentrum steht dabei die gesellschaftliche Emanzipation des Menschen im Umbruch der industriellen Erwerbsarbeit hin zu 'Neuen Infrastrukturen der Arbeit' der IT-gestützten globalen Ökonomie. Die Initiative will einen Beitrag zur Überwindung der sozialen Spaltung (Digital Divide) leisten und zudem regionale Impulse stärken. Den Auftakt der Dialogreihe bildet die Veranstaltung 'Konkrete Utopie der Arbeit – Die Bedeutung des Blochschen Begriffs der 'Ungleichzeitigkeit' für die Gestaltung der neuen Arbeitswelten' am 22. November 2002 im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen. Die Veranstaltungsreihe entsteht in einer Kooperation von Ernst-Bloch-Zentrum, Forum Soziale Technikgestaltung, Ernst-Bloch-Gesellschaft und 'Virtueller Bloch-Akademie'. Weitere Kooperationspartner sollen angesprochen werden. Federführung und Moderation der Initiative liegen gemeinsam in den Händen des Ernst-Bloch-Zentrums und der 'Virtuellen Bloch-Akademie'. Die Inhalte des Dialoges werden öffentlich über den Themensatelliten 'Arbeit' im Ernst-Bloch-Zentrum zugänglich gemacht: über eine Mailing-liste, über die Internetseiten von www.bloch.de und www.bloch-akademie.de. Ort des Dialoges ist vornehmlich das Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen."

Sieben Thesen